Du bekommst deine erste Führungsposition – mehr Verantwortung, mehr Gehalt, mehr Einfluss. Eigentlich ein Grund zur Freude. Doch schon nach wenigen Wochen merkst du: Der Job fühlt sich nicht besser an – sondern schwerer. Mehr Meetings, mehr Konflikte, weniger Zeit für das, was du eigentlich gut kannst. Und statt stolz auf deinen Aufstieg zu sein, fragst du dich: War das wirklich ein Schritt nach vorn?
Viele erleben genau das. Sie freuen sich auf die Beförderung – und landen in einer Rolle, die sie überfordert, isoliert oder sogar ausbrennt. Aber kaum jemand spricht darüber. Denn wer will schon zugeben, dass der vermeintliche „Karriere-Erfolg“ sich falsch anfühlt?
Warum der Aufstieg in eine Führungsrolle oft überfordert
Eine Beförderung bedeutet nicht nur mehr Verantwortung. Sie bedeutet vor allem einen kompletten Rollenwechsel. Was gestern noch deine Stärke war – Fachwissen, operative Exzellenz, schnelle Umsetzung – ist heute plötzlich zweitrangig. Jetzt sollst du führen, moderieren, entscheiden. Aber wer hat dir eigentlich beigebracht, wie das geht?
Laut einer aktuellen Studie des Chartered Management Institute (CMI) wurden 82?% aller Führungskräfte in Großbritannien ohne jede formale Ausbildung in Führung und Management befördert. Sie wurden regelrecht ins kalte Wasser geworfen – weil sie fachlich stark waren, nicht weil sie auf Führung vorbereitet waren.
Das Ergebnis: Überforderung, Verunsicherung, Rückzug ins Micromanagement. Oder, wie das CMI es nennt: eine ganze Generation sogenannter „accidental managers“ – fachlich gut, aber ohne Führungswerkzeug. Das hat zwangsläufig Folgen: Laut der gleichen Studie sagen 50 % der Mitarbeitenden mit einer solchen Führungskraft, dass sie planen, ihren Job in den nächsten zwölf Monaten zu kündigen. Und nur 27 % bewerten ihre Führungskraft überhaupt als „sehr effektiv“. Und genau hier beginnt das Problem: Der Aufstieg wird zwar belohnt – aber nicht begleitet.
Wenn Fachkräfte zu Führungskräften werden
Julia, 34, war eine Top-Projektleiterin in einem mittelständischen IT-Unternehmen. Beliebt im Team, schnell im Denken, verlässlich in der Umsetzung. Als ihre Vorgesetzte kündigt, übernimmt Julia deren Stelle.
Was folgt: Wochen voller Rückfragen, Erwartungen, Konflikte. Entscheidungen muss sie plötzlich allein treffen. Das Team, früher kollegial, wirkt reserviert. Ihr Kalender füllt sich mit internen Abstimmungsterminen, nicht mit Kundenterminen. Nach drei Monaten sitzt sie abends vor ihrem Laptop und googelt: „Wie werde ich eine gute Chefin?“
Was Julia erlebt, ist kein Einzelfall. Viele Unternehmen setzen voraus, dass gute Fachkräfte automatisch auch gute Führungskräfte werden. Wenn du das kannst – kannst du auch das. Ein Irrtum – mit Folgen. Denn wer vorher durch operative Stärke und Fachpräsenz glänzte, fühlt sich in der Führungsrolle oft entkoppelt von seiner Identität. Plötzlich geht es nicht mehr darum, selbst zu leisten – sondern andere zu führen und zum Leisten zu bewegen.
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Vielleicht liegt das Problem gar nicht an dir
Karriere bedeutet in vielen Unternehmen bis heute: Wer gut ist, steigt auf. Punkt. Aber was, wenn der nächste Schritt gar nicht zu dir passt? Wenn du lieber in der Tiefe arbeitest statt in der Breite? Wenn dich fachliche Themen und komplexe Projekte erfüllen – nicht Personalverantwortung?
Fakt ist: Die klassische Karriereleiter funktioniert nur für wenige. Trotzdem befördern Unternehmen ihre besten Fachkräfte – und machen sie damit zu schlechten Managern. Eine globale Gallup-Studie zeigt: In 82 % der Fälle wählen Unternehmen die falsche Person für eine Führungsrolle. Meist, weil sie Erfolg in der bisherigen Position mit Führungstalent verwechseln.
Das Ergebnis? Verlorenes Potenzial, frustrierte Teams, Milliardenverluste. Denn laut Gallup sind Manager für bis zu 70 % der Unterschiede beim Mitarbeiterengagement verantwortlich – und damit auch für Bindung, Leistung, Motivation und letztlich den Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens.
Das größte Problem: Führung wird oft verdient – nicht hinterfragt. Statt Talente zu erkennen, werden Positionen vergeben. Nicht, weil jemand führen kann, sondern weil er oder sie „dran“ ist. Und das funktioniert nicht. Talent ist kein Zertifikat. Es ist Haltung, Instinkt, Fähigkeit – und bei vielen gar nicht vorhanden.
Warum viele trotzdem Ja sagen – obwohl sie eigentlich Nein meinen
Es gibt einen Grund, warum so viele trotz Zweifeln den Schritt in die Führung wagen: Es lohnt sich. Finanziell. Führungskräfte in Deutschland verdienen erheblich mehr als Fachkräfte ohne Personalverantwortung. Je nach Branche, Region und Unternehmensgröße kann der Unterschied zwischen 20 % und mehr betragen. Diese strukturellen Anreize sorgen dafür, dass viele den Sprung wagen – nicht, weil sie führen wollen, sondern weil sie glauben, sonst auf der Stelle zu treten.
So war es auch bei mir. Ich dachte, ich wüsste, was eine Führungsrolle bedeutet. Man hatte mir zuvor gesagt: Du musst liefern, Ergebnisse erzielen, zahlenorientiert arbeiten. Und klar – das gehört dazu. Aber als ich die Rolle tatsächlich übernommen hatte, war ich überrascht, wie anders sich die nennen wir es Führungsrealität anfühlte. Es ging nicht nur um Kennzahlen. Es ging um Menschen. Um Stimmung, Erwartungen, Konflikte – und um die Fähigkeit, Orientierung zu geben.
Rückblickend musste ich noch einmal ganz neu an meine Rolle herangehen. Weniger als Fachkraft mit Titel, mehr als jemand, der intrinsisch führen will – aber auch erst hineinwachsen muss. Genau das fehlt oft: Man kann sich auf diesen Rollenwechsel kaum konkret vorbereiten. Ein Mentor kann gerade in den ersten Wochen ein entscheidender Wegbereiter sein.
Bin ich bereit zu führen? Drei ehrliche Fragen
Wer vor dem nächsten Karriereschritt steht, sollte sich nicht nur auf Gehalt und Titel konzentrieren – sondern auf sich selbst. Diese drei Fragen helfen, Klarheit zu gewinnen:
- Kann ich gut mit Menschen? Interessieren mich ihre Belange und Sichtweisen – oder arbeite ich lieber allein für mich?
- Bin ich bereit, Entscheidungen zu treffen, die andere betreffen?
- Hätte ich auch Freude daran, andere weiterzuentwickeln – selbst wenn es mich Zeit kostet?
Und die vielleicht wichtigste Frage von allen: Wäre ich auch bereit, diesen Job zu machen, wenn ich dafür nicht mehr verdienen würde?
Führung oder Fachlichkeit? Warum wir neue Karrierewege brauchen
Der eigentliche Fehler liegt nicht bei den einzelnen Mitarbeiter – sondern mehr im System. In zu vielen Unternehmen gilt immer noch: Wer aufsteigen will, muss führen. Punkt. Und wer nicht führt, tritt auf der Stelle. Dabei ist das nicht nur falsch – sondern auch teuer.
Dabei trifft es genau die, die Unternehmen eigentlich halten sollten: Menschen, die mitdenken, durchziehen, Verantwortung übernehmen. Wer sie zwingt, zwischen Fachrolle und Führung zu wählen, verliert oft beides – Motivation, Vertrauen und Know-how.
Was aber fehlt, sind konkrete Alternativen. Fachkarrieren mit attraktiven Gehaltsrahmen, Projektverantwortung, Sichtbarkeit im Unternehmen. Keine Alibipositionen, sondern echte Entwicklungspfade – ohne Personalverantwortung, aber dennoch mit Einfluss.
Gleichzeitig braucht Führung mehr als ein paar Seminare. Wer Verantwortung für Menschen übernimmt, sollte professionell darauf vorbereitet werden – mit Zeit, Ressourcen und Raum zur Reflexion. Alles andere führt zum Abstieg: für die Führungskraft, das Team – und am Ende auch für das Unternehmen.