Homeoffice hat gezeigt: Arbeiten funktioniert auch ohne Großraumbüro, Pendelstress und Präsenzzwang. Trotzdem holen viele Chefs ihre Mitarbeitenden mit fragwürdigen Argumenten zurück an den DIN-genormten Schreibtisch. Warum eigentlich?
Was bedeutet Präsenzpflicht?
Präsenzpflicht meint die verpflichtende oder stark eingeforderte Anwesenheit im Unternehmensbüro, oft an bestimmten Tagen, ungeachtet individueller Mitarbeiter-Bedürfnisse oder effizienter digitaler Kommunikationsmöglichkeiten. Die ausgelutschte Begründung lautet meist: Teamkultur, Innovation, Kommunikation. Ja, ja, doch was steckt wirklich dahinter?
Warum drängen Chefs ihre Mitarbeiter zurück ins Büro?
Ob Tech-Konzern, Bank oder Traditionsmarke: Viele Unternehmen begründen die Rückkehr – oder teilweise Rückkehr – ins Büro mit vertrauten Argumenten: mehr Innovation, bessere Zusammenarbeit, stärkere Identifikation. Immer wieder wird betont, wie entscheidend physische Präsenz für Kreativität, Lernprozesse oder Effizienz sei.
Die Ansätze dahinter mögen sich unterscheiden: Manche erhoffen sich mehr Fokus, schnellere Entscheidungswege oder ein stärkeres Wir-Gefühl. Andere setzen – bewusst oder unbewusst – weiterhin auf das Prinzip Kontrolle durch Nähe und Sichtbarkeit.
Lese-Tipp: Chefs im Kontrollwahn: Kontrolle um jeden Preis
Doch die wissenschaftliche Evidenz spricht eine andere Sprache: Eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO („Beyond Hybrid Work – Die post-hybride Arbeitswelt“) zeigt deutlich, dass hybrides Arbeiten keine Übergangslösung ist, sondern längst zur Normalität geworden ist. Über 60 Prozent der Befragten arbeiten halb im Büro, halb remote – und 80 Prozent sagen, sie seien dadurch produktiver. Die erhöhte Flexibilität verbessert nicht nur die Leistung, sondern auch die Zufriedenheit. Ein Win-Win für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Die zehn beliebtesten Begründungen für Präsenzpflicht
1. „Die Unternehmenskultur leidet“
Ohne tägliches Miteinander schwindet der Teamgeist. Was damit gemeint ist: Ohne tägliche Sichtbarkeit entgleitet mir die Kontrolle.
2. „Innovation braucht Begegnung“
Einige Chefs sind fest davon überzeugt, dass wirklich Neues nur entstehen kann, wenn alle physisch beisammen sind. Die Idee: Nähe fördert Kreativität. Die Realität: Gute Ideen brauchen Raum, nicht unbedingt Räume.
3. „Nicht alle können remote arbeiten – das ist ungerecht“
Ein Versuch, Gleichheit herzustellen, indem man Flexibilität für alle beschneidet. Statt über faire und mögliche Lösungen nachzudenken, wird Gleichmacherei betrieben.
4. „Wir brauchen den Flurfunk“
Gespräche gelten als Quell unersetzlicher Informationen. Dabei lässt sich Kommunikation längst smarter und gezielter organisieren, auch digital.
5. „Kunden erwarten unsere Präsenz“
Eine Behauptung, die selten überprüft wird. In vielen Branchen ist Remote-Kommunikation längst Standard und auch vom Kunden akzeptiert.
6. „Wir verlieren die Kontrolle“
Die wohl ehrlichste aller Begründungen. Was fehlt, ist selten der Austausch, sondern das gute alte Machtgefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Wie früher. Im Büro. Unter Aufsicht.
7. „Homeoffice macht bequem“
Ein alter Schuh: Wer zu Hause arbeitet, arbeitet doch weniger. Studien zeichnen ein anderes Bild – viele Beschäftigte sind sogar produktiver, wenn sie selbstbestimmter arbeiten dürfen.
8. „Junge Mitarbeitende brauchen Orientierung“
Ein berechtigtes Anliegen. Doch auch hier gilt: Präsenz allein garantiert kein gutes Mitarbeiter-Onboarding. Es braucht Strukturen – nicht zwangsläufig physische Nähe.
9. „Unsere Büros wurden aufwendig gestaltet“
Ein erstaunlich oft genanntes Argument. Doch nur weil Räume schön sind, müssen sie nicht dauerhaft belegt sein. Ästhetik ersetzt kein gutes Arbeitsmodell.
10. „So war das schon immer“
Der Klassiker unter den Innovationsbremsen. Dabei zeigen die vergangenen Jahre: Es geht auch anders – und oft besser.
Warum eine Rückkehrpflicht für Arbeitgeber zum Problem wird
Für viele Beschäftigte geht es längst nicht mehr um fancy Jobtitel, Tischkicker oder sonstige Benefits. Das ist alles schön, wenn es obendrauf kommt. In erster Linie wollen sie ihren Job gut machen, ihren Lebensunterhalt sichern – und dabei Beruf, Familie, Freizeit und Alltag möglichst reibungslos miteinander vereinbaren. Sie suchen sich Arbeitgeber, die ein gutes Gehalt zahlen und ihnen ermöglichen, all das effizient zu verbinden. Nicht solche, die an Präsenzmodellen der 90er festhalten.
Eine Büropflicht ignoriert aber schlicht die Vielfalt moderner Arbeitsrealitäten. Sie untergräbt Eigenverantwortung und erschwert eben die genannte Vereinbarkeit. Wer als Arbeitgeber auf starre Präsenzmodelle setzt, riskiert, die Bedürfnisse seiner Mitarbeitenden aus den Augen zu verlieren – und im Wettbewerb um Talente den Anschluss.
Nachgefragt: Welche dieser Ausreden hast du selbst schon von deinem Chef oder deiner Chefin gehört?







