Reich ist man immer erst dann, wenn andere es sagen – oder? In der öffentlichen Debatte ist der Begriff oft schillernd, manchmal moralisch aufgeladen, selten aber konkret. Eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) liefert nun präzise Zahlen dazu, wer in Deutschland tatsächlich zur Oberschicht zählt – und wer nicht. Das Ergebnis überrascht, vor allem, weil es so gar nicht mit dem Selbstbild vieler Menschen übereinstimmt.

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Mehr als 5.780 Euro netto im Monat – klingt nach viel?

Laut IW-Studie beginnt ökonomischer Reichtum bei einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von 5.780 Euro – für einen Single. Für ein kinderloses Paar liegt die Grenze bei rund 8.670 Euro. Nur rund vier Prozent der Bevölkerung in Deutschland erreichen diesen Einkommensbereich. Und dennoch glauben viele, dass „reich sein“ in Deutschland weitaus verbreiteter ist. In Befragungen wird der Anteil der Reichen regelmäßig deutlich überschätzt – viele vermuten ihn bei rund einem Viertel der Bevölkerung. Was steckt hinter dieser Wahrnehmungslücke?

Die Psychologie des Vergleichs

Menschen neigen dazu, ihren sozialen Status nicht absolut, sondern relativ zu bestimmen – in Relation zur eigenen Nachbarschaft, zum Kollegenkreis, zu medial vermittelten Bildern von Erfolg und Wohlstand. Wenn der Nachbar ein teures E-Auto fährt, die Kollegin in Italien urlaubt und Instagram-Feeds von Designerhandtaschen überquellen, wirkt das eigene Einkommen schnell schmal. Selbst dann, wenn man statistisch längst zur einkommensreichsten Schicht gehört.

Der Sozialpsychologe Leon Festinger prägte bereits in den 1950er-Jahren den Begriff der sozialen Vergleichsprozesse. Danach definieren wir unser Selbstbild, unsere Zufriedenheit und unseren Platz in der Gesellschaft nicht nach objektiven Maßstäben, sondern im Vergleich zu Menschen, die uns ähnlich scheinen. Dabei wird besonders gern „nach oben“ verglichen – mit jenen, die vermeintlich mehr haben. Die Folge: ein Gefühl des Mangels, selbst bei materieller Fülle.

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Zwischen Scham und Schuld

Hinzu kommt ein psychologisch und kulturell tief verankerter Umgang mit Reichtum in Deutschland: Er ist nicht nur ungleich verteilt, sondern oft auch moralisch aufgeladen. Wer viel verdient, fühlt sich schnell beobachtet, sogar hinterfragt. Der Begriff „Leistung“ steht im Raum, als müsse jedes hohe Einkommen permanent gerechtfertigt werden. Viele Deutsche empfinden Reichtum als weniger gerechtfertigt, wenn er nicht durch harte Arbeit entstanden ist – etwa durch Erbschaften, Kapitalerträge oder persönliche Beziehungen. Besonders Vermögen, das „einfach da ist“, wird häufig kritisch beäugt.

Die Folge: Viele Menschen, die zur Oberschicht gehören, identifizieren sich selbst nicht als reich. Sie sprechen lieber von „gut situiert“ oder „finanziell stabil“. In der psychologischen Forschung ist dieses Phänomen bekannt – es trägt zur sogenannten Reichtumsverleugnung bei. Ein mentaler Schutzmechanismus, der hilft, das eigene Selbstbild mit sozialen Normen in Einklang zu bringen.

Warum das Gefühl von Zugehörigkeit fehlt

Auch das Gefühl, Teil der „Oberschicht“ zu sein, stellt sich bei vielen nicht ein – selbst dann nicht, wenn das eigene Einkommen objektiv dort liegt. Denn ökonomischer Status ist nur ein Teil der Gleichung. Zur sozialen Oberschicht gehört aus Sicht vieler Menschen auch kulturelles Kapital: Bildung, Habitus, Netzwerke. Wer als Aufsteiger aus einem bildungsfernen oder einkommensschwachen Elternhaus stammt, fühlt sich trotz hohem Gehalt oft nicht wirklich „dazugehörig“. Soziale Herkunft wirkt nach – in der Sprache, im Verhalten, im Selbstverständnis.

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Der Soziologe Pierre Bourdieu hat diesen Zusammenhang zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital eindrucksvoll beschrieben. Für ihn ist Reichtum nicht nur eine Frage des Geldes, sondern des Lebensstils. Und dieser lässt sich nicht einfach erkaufen – schon gar nicht über Nacht.

Ungleiche Einkommensverteilung in Deutschland

Die Zahlen des IW machen deutlich, wie ungleich Einkommen in Deutschland verteilt sind – und wie wenig sich das im öffentlichen Bewusstsein widerspiegelt. Nur wenige gehören zur Oberschicht. Doch noch weniger fühlen sich als Teil von ihr.

Vielleicht ist es an der Zeit, Reichtum nicht nur in Euro zu messen. Sondern auch im Zugang zu Bildung, in der Sicherheit, ein Leben ohne große finanzielle Sorgen führen zu können, in der Freiheit, Entscheidungen unabhängig von Geld treffen zu dürfen. 

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