Emotionale Offenheit gilt heute als Schlüssel zu guter Kommunikation – im Beruf wie im Privaten. Gefühle benennen, Bedürfnisse ausdrücken, Grenzen ziehen: All das soll Beziehungen stärken und Konflikte entschärfen. Die sogenannte Ich-Botschaft gilt dabei als Königsweg. Doch was, wenn genau dieses Prinzip manchmal mehr trennt als verbindet?

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Die US-amerikanische Psychologin Tessa West, Professorin an der New York University, plädiert in einem Gespräch mit dem Sender CNBC für eine differenziertere Sicht auf emotionale Intelligenz: Entscheidend sei nicht, dass man über Gefühle spricht, sondern wann.“

Wer zuerst versucht, die Perspektive des Gegenübers zu verstehen, schafft oft mehr Verbindung als durch die direkte Konfrontation mit dem eigenen Erleben. Diese Idee ist nicht nur provokant, sie berührt einen blinden Fleck in unserer Vorstellung von guter Kommunikation.

Wahrnehmung ist nicht gleich Wirklichkeit

Viele Konflikte entstehen nicht aus bösem Willen, sondern aus unterschiedlichen Wahrnehmnungen der Realität. Wir glauben, dass ein Ereignis eindeutig sei, doch oft ist es nur unsere Interpretation davon, die eindeutig wirkt. Ein Kollege, der uns während einer Präsentation unterbricht. Ein Chef, der uns nicht zum im Meeting einlädt. Sofort reagiert unser inneres Bewertungssystem: „Das war respektlos.“ „Ich wurde ausgegrenzt.

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Doch was, wenn die andere Person in einem ganz anderen Gedankengang unterwegs war? Vielleicht wollte der Kollege schlicht auf die Zeit achten. Vielleicht war das Meeting spontan und kurzfristig einberufen worden. Solche Situationen zeigen: Die emotionale Reaktion ist real, aber sie basiert oft auf einer unsicheren Grundlage.

Bevor man also mit einem „Ich habe mich verletzt gefühlt“ beginnt, könnte eine andere Herangehensweise hilfreicher sein: Nachfragen, wie die Situation vom Gegenüber erlebt wurde.

Bevor wir das „Warum“ klären, sollten wir das „Was“ verstehen

Ein klassischer Denkfehler in zwischenmenschlichen Konflikten ist die vorschnelle Zuschreibung von Motiven. Wir glauben zu wissen, warum jemand sich so oder so verhalten hat – und liegen damit erstaunlich oft daneben.

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Die Psychologie spricht hier von einem „Attributionsfehler“: Wir interpretieren das Verhalten anderer gerne als Ausdruck ihrer Persönlichkeit („Er hat mich unterbrochen, weil er sich für etwas Besseres hält“) – während wir unser eigenes Verhalten lieber mit der Situation entschuldigen („Ich war einfach unter Druck“). Dieses Ungleichgewicht ist menschlich, aber dennoch problematisch.

Dabei ist es ist ein Zeichen von emotionaler Intelligenz, die eigenen Annahmen infrage zu stellen. Statt: „Du hast das gemacht, weil…“ könnte man sagen: „Ich habe mich gefragt, was dahintersteckt – magst du mir deine Sicht erklären?“ Dieses einfache Reframing öffnet Türen, die mit Vorwürfen verschlossen bleiben.

Gefühle brauchen Kontext, um verstanden zu werden

Ein häufig übersehener Aspekt in Konflikten: Gefühle sind keine fixen Größen. Sie verändern sich, je nachdem, wie wir eine Situation deuten. Was sich im ersten Moment wie eine Zurückweisung anfühlt, kann sich im Licht neuer Informationen in ein Missverständnis oder sogar eine gut gemeinte Absicht verwandeln.

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Gerade deshalb sei es oft klüger, mit dem Gefühlsteil des Gesprächs zu warten, bis mehr Klarheit über Situation und Absicht besteht. So lässt sich vermeiden, dass der emotionale Einstieg zu einer Sackgasse führt.

Ein ehrlicher Satz wie „Ich glaube, ich habe vorschnell interpretiert – jetzt sehe ich es etwas anders“ zeigt mehr emotionale Reife als jede perfekt formulierte Ich-Botschaft. Und eröffnet oft auch dem Gegenüber die Freiheit, sich zu öffnen, ohne sich sofort verteidigen zu müssen.

Emotionale Intelligenz als Dialog, nicht als Selbstdarstellung

Die These von Tessa West trifft einen wunden Punkt im modernen Kommunikationsverständnis: Wir haben gelernt, dass emotionale Offenheit ein Zeichen von Authentizität ist. Das stimmt, aber nur, wenn sie in einen echten Dialog eingebettet ist. Wer Gefühle nur sendet, ohne die Wahrnehmung des Gegenübers zu berücksichtigen, spricht nicht wirklich, sondern sendet Monologe in Richtung Verständnislosigkeit.

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Emotionale Intelligenz zeigt sich also nicht primär darin, wie präzise wir unsere Gefühle benennen. Sondern darin, wie sehr wir bereit sind, die Komplexität zwischenmenschlicher Situationen auszuhalten. Nicht jede Wahrheit passt in ein Gefühl. Und nicht jedes Gefühl muss sofort ausgesprochen werden, um gehört zu werden.

Der klügere Konflikt beginnt mit Zuhören

Gespräche über Gefühle nicht zu früh zu führen, ist keine Einladung zur emotionalen Verdrängung. Im Gegenteil: Es ist ein Plädoyer für ein tieferes, ehrlicheres Verstehen. Wer Konflikte lösen will, tut gut daran, die eigene Perspektive nicht zum Ausgangspunkt zu machen, sondern zur Einladung für ein Gespräch, das beiden Seiten gerecht wird.

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