Früher war es der Sommer nach dem Abitur, heute ist es der Berufseinstieg: Immer mehr junge Menschen in Deutschland träumen nicht nur vom Reisen, sondern vom Leben im Ausland. Laut der aktuellen EY-Studierendenstudie gehen 41 Prozent der Befragten davon aus, ihre Karriere außerhalb Deutschlands zu beginnen – ein Anstieg von über 50 Prozent gegenüber 2022. Was einst Ausnahme war, droht zur Bewegung zu werden.
Die Frage, die sich stellt: Ist das bloß Fernweh unserer Jungstars – oder Ausdruck einer wachsenden Entfremdung von der Heimat? Für viele junge Menschen ist das Ausland nicht länger nur Traum, sondern realer Plan. Sie erleben ein Deutschland, das ihnen oft wenig Flexibilität, wenig Raum für Neues bietet – und das sich gleichzeitig wundert, wenn Talente leise gehen. Die typische Wetterfrage sparen wir uns an dieser Stelle.
Aufbruch statt Ausbruch?
Was treibt junge Menschen in die Ferne? Die Zahlen der Studie verweisen auf Selbstbewusstsein, Weltoffenheit, Flexibilität. Doch unter der Oberfläche liegt oft auch ein Unbehagen mit den beruflichen Aussichten im eigenen Land. Der wirtschaftliche Stillstand, die träge Digitalisierung, die Bürokratie, das Gefühl, dass in Deutschland vieles eher „verwaltet“ statt „gestaltet“ wird – all das prägt die Wahrnehmung einer Generation, die aber gestalten und wachsen will.
Psychologisch gesprochen ist das Auswandern ein starker Ausdruck von Autonomiebedürfnis und Selbstwirksamkeit. Wer sich entscheidet, die vertraute Umgebung hinter sich zu lassen, handelt aktiv – nicht reaktiv. Es geht um das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, um die Sehnsucht nach Entwicklung, aber auch um die Hoffnung, in einem anderen System bessere Bedingungen für die eigene Entfaltung zu finden.
Berlin denkt global, Mecklenburg bleibt lokal
Die regionale Verteilung zeigt, wie unterschiedlich die Perspektive auf die Welt ausfällt – je nach Bundesland. In Berlin planen 57 Prozent der Studierenden einen Jobstart im Ausland, im Saarland 53 Prozent, in Bremen 54 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern hingegen liegt dieser Wert bei nur zehn Prozent. Der Wohnort beeinflusst offenbar nicht nur die Karrierechancen, sondern auch die mentale Landkarte.
In den alten Industrie- und Universitätszentren ist Internationalität Teil des Alltags. Dort ist das Auswandern nicht Flucht, sondern Fortschritt – oft angeregt durch Austauschprogramme, englischsprachige Studiengänge und internationale Kommilitonen. In strukturschwächeren Regionen dagegen ist die Verbindung zur Heimat stärker – nicht nur kulturell, sondern auch emotional.
Der Preis der Mobilität
Es klingt nach Erfolgsgeschichte: Junge Menschen, die sich trauen, ihre Zukunft selbst zu gestalten, über Ländergrenzen hinweg. Doch dieser Trend hat auch eine Kehrseite – für Deutschland. Wenn eine gut ausgebildete, mehrsprachige und ambitionierte Generation ihre Karriere im Ausland beginnt, geht nicht nur Wissen verloren, sondern auch Zukunft.
Nathalie Mielke von EY: „Der mögliche Wegzug von gut ausgebildeten Fachkräften muss ein Alarmsignal für die deutsche Wirtschaft sein.“ In vielen Branchen herrscht bereits jetzt akuter Mangel an qualifiziertem Nachwuchs – die Abwanderung könnte diese Schieflage dramatisch verschärfen.
Gerade in Zeiten, in denen ein „Bleiben“ nicht mehr selbstverständlich ist, braucht es eine neue Kultur der Wertschätzung: für Ideen, für Wagemut, für Vielfalt. Denn wenn junge Menschen glauben, ihre Zukunft liege woanders, dann stellt sich nicht nur die Frage nach deren Loyalität – sondern auch nach der Attraktivität des Landes, das sie verlassen.
Zwischen Fernweh und Zugehörigkeit
Wer geht, lässt nicht nur geografisch etwas hinter sich, sondern auch sozial und emotional. Das Gefühl von Zugehörigkeit, das Bedürfnis nach Verbundenheit – all das muss im Ausland neu aufgebaut werden. Der Start im Ausland erfordert deshalb nicht nur Mut, sondern auch Resilienz.
Gleichzeitig bietet der Auslandsstart die Chance auf ein neues Selbstverständnis. In der Fremde zeigt sich, wie tragfähig die eigene Identität ist, wie offen man für neue Kulturen, andere Arbeitsweisen und ungewohnte Perspektiven ist. Viele junge Menschen entdecken dabei: Heimat ist nicht nur ein Ort – sondern ein Zustand.
Die gestiegene Bereitschaft, Deutschland für den Karrierestart zu verlassen, ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Umbruchs. Sie zeigt, dass junge Menschen sich nicht mehr mit Kompromissen zufriedengeben – weder im Job noch im Leben. Wer sie halten will, muss mehr bieten als Sicherheit: klare Perspektiven, Sinn, Beteiligung und Vertrauen in ihre Gestaltungskraft.
Vielleicht geht es also nicht nur darum, Talente zu halten. Sondern darum, ein Land zu sein, in dem junge Menschen bleiben und sich entfalten wollen.