Facereading soll helfen, Persönlichkeit, Talente und Motive aus Gesichtszügen und Mimik abzulesen. Unternehmen setzen es ein, um Teams gezielt zusammenzustellen oder Führungskräfte besser zu fördern – etwa, indem sie Führungsqualitäten früh erkennen oder Coaching individuell dahingehend anpassen. Befürworter sehen darin eine Chance für bessere Menschenkenntnis und Teamdynamik. Kritiker hingegen warnen vor Fehleinschätzungen, Vorurteilen und der fragwürdigen Praxis, Menschen anhand ihres Gesichts zu bewerten.
Facereading: Die Psychologie hinter dem Gesichtslesen
Die Idee, dass das Gesicht etwas über den Charakter verrät, ist nicht neu. Bereits in der Antike befassten sich Philosophen wie Aristoteles mit der Physiognomie – der Lehre, die aus Gesichtszügen auf Persönlichkeitsmerkmale schließen will. In China entwickelte sich über Jahrhunderte das Siang Mien, eine detaillierte Form des Gesichtslesens, die unter anderem in der traditionellen Medizin Anwendung fand. Heute existieren zwei Hauptansätze im modernen Facereading: die Physiognomie und die Mikroexpressionen.
- Die Physiognomie geht davon aus, dass bestimmte Gesichtsmerkmale auf Charaktereigenschaften hinweisen. Eine breite Stirn wird beispielsweise oft mit analytischem Denken in Verbindung gebracht, während eine markante Kinnlinie auf Durchsetzungsvermögen hindeuten soll.
- Mikroexpressionen hingegen sind winzige, oft unbewusste Gesichtsbewegungen, die für den Bruchteil einer Sekunde auftreten. Sie geben Hinweise auf echte Emotionen, selbst wenn jemand versucht, seine Gefühle zu verbergen.
Der Psychologe Paul Ekman bewies, dass diese Mikroexpressionen universell sind und in allen Kulturen ähnlich auftreten. Das machte sie besonders interessant für Bereiche wie Verhandlungsführung, Verhaltensanalyse und eben auch für das Personalmanagement in Unternehmen.
Talente und Potenziale erkennen – was dein Gesicht verrät
Befürworter von Facereading argumentieren, dass sich aus Gesichtsmerkmalen wertvolle Informationen über Stärken, Schwächen und Potenziale eines Jobkandidaten ableiten lassen. Eine breite Stirn könnte demnach auf strategisches Geschick hinweisen, während große Augen für Offenheit und Neugier stehen sollen. Ein ausgeprägtes Kinn wird oft mit Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen in Verbindung gebracht, während volle Lippen emotionale Ausdrucksstärke signalisieren.
Zudem sollen Gesichtszüge nicht nur mögliche Charaktereigenschaften widerspiegeln, sondern auch Hinweise auf Denkweise und Motivation geben. Während Mikroexpressionen vor allem kurzfristige emotionale Zustände enthüllen, sollen angeborene Merkmale wie Augenform, Stirnbreite oder Kinnstruktur langfristige Persönlichkeitstendenzen erkennen lassen. Kritiker bezweifeln jedoch, dass sich Menschen allein durch ihr Gesicht eindeutig kategorisieren lassen.
Werden diese Merkmale richtig interpretiert, könnten sie helfen, Teams gezielter zusammenzustellen oder individuelle Stärken besser zu nutzen. Ein erfahrener Facereader könnte frühzeitig erkennen, wer sich eher für kreative Aufgaben, z. B. im Marketing, eignet und wer analytische Fähigkeiten mitbringt. Doch wie zuverlässig sind solche Einschätzungen?
Facereading in Unternehmen: Chancen und Risiken
Die Vorstellung, dass ein Chef oder Vorgesetzter aus unserem Gesicht Rückschlüsse auf unsere Emotionen, Stärken oder Schwächen zieht, kann schon ein wenig beunruhigen. Befürworter argumentieren jedoch, dass Führungskräfte durch geschulte Wahrnehmung Talente besser erkennen und gezielt fördern können. Wer Mikroexpressionen deuten kann, versteht möglicherweise auch die Emotionen seines Gegenübers besser und kann auf Stimmungen im Team sensibler reagieren – Stichwort Emotionsarbeit. Das wäre ein Vorteil, um die Zusammenarbeit zu verbessern und eine harmonischere Arbeitsatmosphäre zu schaffen – zumindest in der Theorie.
Doch es gibt auch erhebliche Bedenken und Risiken. Facereading ist keine exakte Wissenschaft, sondern basiert auf Wahrscheinlichkeiten und subjektiven Einschätzungen. Die Gefahr der Fehleinschätzung ist groß, da Gesichtszüge allein niemals die gesamte Persönlichkeit eines Menschen widerspiegeln können. Zudem besteht das Risiko, dass Menschen aufgrund ihrer äußeren Merkmale vorschnell in Schubladen gesteckt werden. Wer etwa ein markantes Kinn hat, wird möglicherweise als durchsetzungsstark wahrgenommen – auch wenn dies gar nicht seiner tatsächlichen Natur entspricht. Möglicherweise wird diese Eigenschaft in Zukunft sogar als selbstverständlich vorausgesetzt – etwa in einer möglichen Rolle als Führungskraft.
Ein weiteres Problem ist der ethische Aspekt. Ist es fair, wenn Chefs oder Personalverantwortliche unbemerkt das Gesicht ihrer Mitarbeiter analysieren? Sollten Menschen nicht selbst entscheiden dürfen, welche Informationen sie über sich preisgeben und welche nicht?
Besonders kritisch wird es, wenn Facereading als heimliche Methode genutzt wird, um Bewerber einzuschätzen oder Personalentscheidungen zu treffen. In diesem Fall droht eine Entwicklung hin zu einer gläsernen Arbeitswelt, in der Menschen ohne ihr Wissen analysiert und bewertet werden.
Wie viel verrät unser Gesicht wirklich?
Obwohl Facereading zumindest interessante Ansätze zur Menschenkenntnis bietet, darf es nicht als alleinige Entscheidungsgrundlage dienen. Gesichtszüge geben keine endgültigen Antworten über eine Persönlichkeit, sondern zeigen höchstens momentane Tendenzen. Ja, manchmal kann man in den Gesichtern der Menschen ablesen, ob sie viel durchgemacht haben, ob sie bei Wind und Wetter auf dem Bau arbeiten oder im warmen Büro sitzen und ein eher entspannteres Leben führen. Hinzu kommt, dass Mimik stark von der jeweiligen Situation abhängt. Ein nervöses Zucken oder ein angespanntes Lächeln kann viele Ursachen haben – Stress, Müdigkeit oder schlicht ein schlechter Tag.
Ein weiteres Problem ist die Veränderbarkeit der Persönlichkeit. Menschen entwickeln sich ständig weiter, lernen aus Erfahrungen und passen ihr Verhalten an. Wer heute noch zurückhaltend und unsicher wirkt, kann in einigen Jahren selbstbewusst auftreten. Eine starre Interpretation von Gesichtszügen könnte diesen Entwicklungsprozess ignorieren und Menschen auf bestimmte Rollen festlegen, die ihnen möglicherweise nicht gerecht werden.
Facereading kritisch hinterfragen – bewusst einsetzen
Facereading kann als Werkzeug zur Menschenkenntnis und zur besseren Teamarbeit durchaus sinnvoll sein – solange es mit Bedacht eingesetzt wird und offen darüber mit der betroffenen Person, z. B. im Rahmen eines Vorstellungsgesprächen gesprochen wird. Es kann helfen, nonverbale Signale besser zu verstehen und empathischer auf andere Menschen einzugehen. Doch es birgt auch Risiken, wenn es zu stark als Entscheidungsgrundlage für Bewerbungen oder Personalmanagement genutzt wird.
Nachgefragt: Wollen wir wirklich, dass unser Gesicht mehr über uns verrät, als wir selbst preisgeben möchten? Klar, manchmal tut es das – wenn wir uns schlecht fühlen oder happy sind. Doch die Kunst, Menschen wirklich zu verstehen, wird immer mehr erfordern als nur einen Blick ins Gesicht.