Viele kennen ihre Schwächen. Ihre Stärken kennen die wenigsten. Dabei sind es gerade sie, die nicht nur zu beruflichem Erfolg, sondern auch zu innerer Zufriedenheit, Motivation und Sinn führen. Ein Plädoyer für einen neuen, stärkenorientierten Blick auf uns selbst und andere.

Anzeige

„Was sind deine größten Stärken?“

Es ist eine einfache Frage – und doch bringt sie viele ins Straucheln. Statt klarer Antworten folgen ausweichende Begriffe wie Teamfähigkeit oder Belastbarkeit. Worte, die mehr nach Bewerbungsgespräch klingen als nach gelebter Überzeugung.

Dabei sind unsere Stärken kein theoretisches Konstrukt. Sie sind Ausdruck unseres innersten Wesens: Fähigkeiten, Haltungen, Denk- und Handlungsweisen, die uns Energie geben, uns ins Tun bringen – und in denen wir aufgehen. Und doch kennen wir sie oft nicht. Oder trauen uns nicht, sie beim Namen zu nennen.

Wie der Blick auf Schwächen uns prägt

Unsere Gesellschaft ist geübt im Entdecken von Schwächen. Schon in der Schule wird genau geschaut, wo etwas „noch nicht gut genug“ ist. Fehler werden rot angestrichen, Defizite betont. Diese Denkweise setzt sich fort: in der Ausbildung, im Studium, im Berufsleben. Mitarbeitergespräche fragen nach dem „Verbesserungspotenzial“, nicht nach dem, was bereits stark ist.

Anzeige

Die Folge: Ein Großteil der Energie fließt in das Glätten von Kanten, das Aufholen von Rückständen – statt in das bewusste Fördern von Ressourcen. Die Organisation wird zur Reparaturwerkstatt des Mangelhaften, nicht zur Bühne des Starken.

Dabei zeigt uns die Positive Psychologie einen alternativen Weg. Martin Seligman, einer ihrer Vordenker, beschreibt Stärken nicht nur als Fähigkeiten, sondern als psychologische Grundenergien: stabile Muster des Denkens, Fühlens und Handelns, die mit unserer Identität verbunden sind. Wer sie kennt und nutzt, fühlt sich authentischer, motivierter – und langfristig gesünder.

Was geschieht, wenn Menschen in ihren Stärken arbeiten?

Zahlreiche empirische Studien bestätigen den Nutzen stärkenorientierter Arbeit:

Anzeige
  • Mitarbeitende, die ihre Stärken kennen und einsetzen, sind bis zu sechsmal häufiger emotional engagiert als andere.
  • Teams mit stärkenfokussierter Führung haben geringere Fluktuation, weniger Krankheitstage und höhere Produktivität.
  • Menschen, die in ihren Stärken arbeiten, berichten von mehr Sinnerleben, Selbstwirksamkeit und Lebenszufriedenheit.

Der Grund ist simpel: Wer in dem arbeitet, was ihm liegt, erlebt sich als wirksam – nicht trotz seiner Persönlichkeit, sondern durch sie. Diese Form der Übereinstimmung zwischen innerem Potenzial und äußerer Aufgabe wird in der Psychologie als Kongruenz bezeichnet – und ist ein zentraler Faktor für seelische Gesundheit.

Wie lassen sich eigene Stärken erkennen?

Die meisten Menschen haben nie gelernt, ihre Stärken wirklich zu benennen. Sie kennen ihre Aufgaben, ihre Pflichten, ihre Schwächen – aber nicht das, was sie ausmacht. Nicht das, was ihnen Kraft gibt, was leichtfällt, was andere an ihnen schätzen. Wer seine Stärken erkennen will, braucht keine Tests, sondern Klarheit. Und gute Fragen. Die folgenden vier Zugänge sind keine Technik – sie sind Einladung zum Hinschauen.

1. Rückblick: Wann war ich wirklich in meiner Stärke?

Ein Blick auf vergangene Erfolgserlebnisse offenbart oft viel mehr als ein Fragebogen. Welche Tätigkeiten ließen mich die Zeit vergessen? Wann war ich stolz auf mein Handeln? Welche Rolle habe ich dabei eingenommen – Gestalter, Analyst, Zuhörer, Ideengeber?

Anzeige

2. Fremdbild einholen – mit offenen Fragen

Ein kraftvoller Impuls ist die gezielte Rückmeldung von außen: „Wann hast du mich in meiner Stärke erlebt?“ Oder: „Was traust du mir mehr zu als ich mir selbst?“ Solche Fragen erlauben neue Perspektiven auf das eigene Können.

3. Stärkentests: Strukturiert, aber kein Ersatz für Selbsterkenntnis

Instrumente wie der VIA-Charakterstärkentest oder der Gallup CliftonStrengths können dabei helfen, Sprache für das zu finden, was oft schwer greifbar ist. Sie liefern Begriffe, Kategorien, erste Hinweise – mehr nicht. Wer sie nutzt, sollte sie nicht als Bewertung verstehen, sondern als Einladung zum Weiterdenken. Entscheidend ist nicht das Testergebnis, sondern die Auseinandersetzung damit: Was passt? Was irritiert? Was öffnet eine Tür?

4. Energie-Tagebuch führen

Ein einfaches, aber wirksames Werkzeug: Jeden Abend kurz notieren, welche Tätigkeiten Energie gegeben und welche sie geraubt haben. Nach einer Woche zeigen sich oft überraschende Muster – Hinweise auf natürliche Stärken, die man bislang nicht auf dem Schirm hatte.

Anzeige

Lese-Tipp: Erfolgstagebuch: Kleines Helferlein mit großer Wirkung

Was sind Stärken – und was nicht?

Nicht jede Fähigkeit ist gleich eine Stärke. Die stärkenorientierte Psychologie differenziert hier klar:

  • Stärken sind Eigenschaften, die uns mit Energie versorgen, uns in unserem besten Selbst zeigen und die wir häufig einsetzen – freiwillig und mit Freude.
  • Kompetenzen sind Fertigkeiten, die wir uns angeeignet haben, nicht immer freiwillig. Sie machen uns leistungsfähig, aber nicht immer lebendig.
  • Rollenfähigkeiten entstehen aus Anpassung: Wir entwickeln sie, weil es die Situation erfordert – nicht, weil sie zu unserer Natur passen.

Ein Mensch kann also exzellent präsentieren – und sich dabei jedes Mal ausgelaugt fühlen. Das ist keine Stärke, sondern eine erlernte Performance. Wahre Stärken hingegen geben Energie zurück.

Anzeige

Führung mit Stärken: Was gute Führungskräfte anders machen

Stärkenorientierte Führung ist mehr als eine Methode – sie ist eine Haltung. Sie geht davon aus, dass jeder Mensch Talente besitzt, die sich entfalten wollen – und dass Führung darin besteht, diesen Prozess zu begleiten, zu ermöglichen, nicht zu steuern.

Was stärkenorientierte Führung konkret ausmacht:

  • Sie erkennt individuelle Unterschiede nicht als Störfaktoren, sondern als Ressource.
  • Sie verbindet Feedback mit konkreten Stärken: Nicht nur loben, sondern benennen, was genau gelungen ist und warum.
  • Sie nutzt Stärken als Grundlage für Aufgabenverteilung, Teamzusammenstellung und Entwicklungsgespräche.
  • Sie erträgt Unterschiedlichkeit – auch dann, wenn sie nicht ins eigene Raster passt.

Ein Team, das sich über Stärken kennt und ergänzt, agiert komplementär statt homogen. Konflikte werden dadurch nicht eliminiert, aber besser verstehbar – denn viele Missverständnisse entstehen dort, wo Stärken nicht gesehen oder falsch interpretiert werden.

Lese-Tipp: Führung: 12 Dinge, die großartige Chefs jeden Tag tun

Anzeige

Der konstruktive Umgang mit Schwächen

Stärken zu stärken heißt nicht, Schwächen zu verdrängen – zu unterdrücken. Im Gegenteil: Eine gesunde Selbstführung erkennt an, dass niemand alles können muss. Manche Schwächen lassen sich kompensieren – durch kluges Delegieren, gute Teamarbeit oder schlicht durch Akzeptanz.

Es ist entlastend, sich von dem Anspruch zu befreien, in allem „gut genug“ sein zu müssen. Viel wichtiger ist die Frage: Welche meiner Stärken kann ich nutzen, um mit dieser Schwäche umzugehen – oder sie elegant zu umschiffen?

Stärkenorientierung heißt Potenzial entfalten

Die Idee der Stärkenorientierung ist eine fundierte Alternative zu einer defizitorientierten Arbeitskultur, die auf Korrektur statt auf Potenzial setzt.

In einer Zeit, in der psychische Erschöpfung zunimmt, Menschen nach Sinn suchen und Organisationen auf Agilität angewiesen sind, könnte dieser Perspektivwechsel entscheidend sein: Nicht mehr fragen, was fehlt – sondern was da ist.

Wer beginnt, seine Stärken wirklich zu kennen und zu leben, verändert nicht nur seine Arbeitsweise. Er verändert die Art, wie er sich selbst erlebt – und wie er anderen begegnet. Und das ist vielleicht die stärkste Wirkung überhaupt.

Anzeige

Anzeige