Du machst pünktlich Schluss, packst deine Sachen, willst schon Richtung Tür – und dann kommt dieser Spruch aus der hintersten Büroecke: „Machst du heute halbtags?“ Zack, schon hängt dir das schlechte Gewissen wie ein Rucksack an den Schultern. Willkommen in der absurden Logik der Überstundenkultur.

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In vielen deutschen Büros dominiert noch immer ein Mantra aus alten Industrietagen: Wer lange bleibt, dem liegt angeblich das Wohl der Firma am Herzen – er klotzt ran und zeigt Einsatz. Wer dagegen pünktlich geht, bekommt schnell das Etikett „faul“ oder „ambitionslos“ aufgebrummt. Auch Begriffe wie „Low Performer“ oder „Dienst nach Vorschrift“ fallen in diesem Zusammenhang immer wieder. Doch dieses Denken ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Denn es sendet ein toxisches Signal: Leistung zählt hier weniger als Sitzfleisch.

Überstunden gehören zum Alltag – vor allem im Homeoffice

Was viele im Alltag spüren, lässt sich inzwischen auch belegen: Die Überstundenkultur ist ein strukturelles Problem. Laut der bundesweit repräsentativen Beschäftigtenbefragung des DGB-Index Gute Arbeit zeigt sich ein klares Muster:

Trotz eines leichten Rückgangs bleibt das Überstundenvolumen in Deutschland auf hohem Niveau, egal ob bezahlt oder unbezahlt. Besonders brisant: Mehr als die Hälfte aller Überstunden im Jahr 2024 wurden nicht vergütet.

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Trotz aller New-Work-Rhetorik arbeitet fast jeder Zweite regelmäßig länger, als im Arbeitsvertrag vereinbart. Für viele ist das längst Alltag: Ein Viertel der Beschäftigten schiebt Woche für Woche mehr als fünf Überstunden. Besonders deutlich wird das bei jenen, die ohnehin ständig unter Strom stehen – 15 Prozent arbeiten sehr häufig oder oft außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit, unbezahlt und für ihren Betrieb. Wer im Homeoffice arbeitet, ist davon besonders betroffen: Dort liegt der Anteil der Überstunden bei 52 Prozent, verglichen mit 31 Prozent bei Beschäftigten ohne Homeoffice.

Fleiß durch Präsenz – ein Mythos

Das Phänomen ist weit verbreitet: In Köpfen, in Chefetagen, in der Erwartungshaltung vieler Arbeitgeber. Dabei zeigt die Forschung längst: Überstunden steigern weder die Produktivität noch die Qualität der Arbeit. Im Gegenteil. Wer regelmäßig zu viel arbeitet, macht mehr Fehler, trifft schlechtere Entscheidungen und brennt schneller aus. Ein voller Schreibtisch ist kein Statussymbol, sondern eher ein Alarmsignal.

Und trotzdem hält sich der Mythos vom „Fleiß durch Präsenz“. Vielleicht, weil er sich so gut erzählt. Der Kollege, der immer der Letzte im Büro ist. Die Mitarbeiterin, die „noch eben schnell“ was fertig macht, während andere längst beim Abendessen sitzen. Dabei übersehen wir: Viele dieser Überstunden entstehen nicht aus Engagement, sondern aus ineffizienten Prozessen, schlechter Planung oder falsch verstandenem Pflichtgefühl.

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Dauerpräsenz ist nicht gleich Leistung

Denn wer dauernd länger bleibt, will oft nicht zeigen, wie viel er leistet, sondern wie unverzichtbar er ist. Es geht um Sichtbarkeit, nicht um Effizienz. Ein performativer Akt der Dauerpräsenz. Und wer dabei nicht mitspielt, gerät schnell ins Abseits. Nicht, weil er schlechter arbeitet, sondern weil er das Spiel nicht mitspielen will.

Doch wie krank ist ein System, in dem man sich für’s „pünktlich Feierabend machen“ beäugen lassen muss? Als würde jemand, der seine Zeit effizient nutzt und klare Grenzen zieht, weniger motiviert und leistungsbereit sein als jemand, der sich selbst aufreibt. Dabei ist genau das ein Zeichen von Professionalität: zu wissen, wann Schluss ist. Und die Fähigkeit, sich selbst zu schützen – vor Burnout, Selbstausbeutung und falschen Erwartungen.

Engagement misst sich nicht in Stunden, sondern in Ergebnissen

Engagement misst sich nicht in Stunden, sondern in Ergebnissen. In Ideen, in klugen Entscheidungen, in Teamgeist – und nicht in der Zahl der durchgearbeiteten Abende.

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Wer pünktlich geht, sagt nicht: „Ich habe keine Lust.“ Sondern: „Ich weiß, wie viel ich leisten kann – und will morgen wieder voll da sein.“ Das ist kein Mangel an Einsatz, sondern ein gesunder Umgang mit den eigenen Ressourcen. Und genau das brauchen moderne Unternehmen: Mitarbeitende, die nicht nur funktionieren, sondern denken. Die nicht nur anwesend sind, sondern wirksam.

Es ist Zeit, mit dem Überstunden-Mythos aufzuräumen. Nicht länger zu glauben, dass Dauerpräsenz ein Karrierebooster ist. Denn wer dauerhaft über seine Grenzen geht, zahlt irgendwann den Preis – mit der eigenen Gesundheit.

Der wahre Beweis von Engagement ist doch eher: Selbstführung. Verantwortung. Und der Mut, pünktlich zu gehen – selbst wenn aus der hintersten Büroecke noch etwas nachhallt.

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