Du hast starke Rückenschmerzen, aber statt zum Orthopäden musst du erst beim Hausarzt vorbei. Sonst kostet’s 200?Euro. Klingt absurd? Könnte bald Realität sein.

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Wenn Politik zur Gesundheitsbremse wird

Hast du dich schon mal gefragt, was passiert, wenn du morgens mit Schmerzen zur Arbeit willst – und dich stattdessen erst in ein volles Wartezimmer setzen musst? Nicht beim Spezialisten, der dir helfen könnte, sondern beim Hausarzt. Nur um ein Überweisungsformular zu bekommen. Wenn es nach einem aktuellen CDU-Vorstoß geht, könnte genau das zur Regel werden. Wer ohne Überweisung direkt zum Facharzt geht, soll 200?Euro zahlen. Für Berufstätige bedeutet das nicht nur mehr Bürokratie, sondern auch mehr Fehlzeiten, mehr Belastung und am Ende: mehr Frust.

Patientensteuerung – oder Patientenbestrafung?

Die Idee hinter dem CDU-Vorstoß ist nicht neu. Seit Jahren diskutieren Gesundheitspolitiker, wie man die Kosten im System senken kann. Der Weg über das sogenannte Primärarztsystem soll Patienten besser lenken: Hausärzte als erste Anlaufstelle, Fachärzte nur mit Überweisung. Das Ziel: effizientere Versorgung und weniger unnötige Termine bei Spezialisten. So weit, so vernünftig – zumindest auf dem Papier.

Denn in der Realität ist die Lage komplizierter. Wer berufstätig ist, weiß: Zeit ist knapp. Zwischen Termindruck, Kinderbetreuung und Arbeitsweg bleibt oft nur ein kleines Zeitfenster für Arztbesuche. Eine zusätzliche Hürde – wie der Umweg über den Hausarzt – kann da zum echten Problem werden. Erst recht, wenn eine „Strafgebühr“ von 200 Euro droht.

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Facharztmangel trifft auf überlastete Hausarztpraxen

Laut der GKV-Versichertenbefragung 2024 erhalten 75 Prozent der gesetzlich Versicherten ihren Facharzttermin innerhalb von 30 Tagen – das heißt aber auch: Ein Viertel wartet länger. Besonders bei bestimmten Fachrichtungen wie Augenheilkunde, Kardiologie oder Urologie liegen die Wartezeiten im oberen Quartil bei bis zu 50 Tagen. In Bereichen wie Gynäkologie, Dermatologie oder Radiologie betragen sie rund einen Monat.

Gleichzeitig empfinden laut Studie 31 Prozent der Versicherten die Wartezeit beim Facharzt als zu lang – ein Wert, der sich auf dem Niveau von 2019 bewegt. Der medizinische Bedarf ist also da. Aber die Versorgung hinkt hinterher.

Der CDU-Vorstoß verspricht: Weniger unnötige Termine, mehr Kapazität für die „echten Fälle“. Doch die Rechnung geht nicht auf. Denn: Hausarztpraxen sind selbst am Limit. Dabei fehlen bundesweit bereits über 5.000 Hausärzte, Tendenz steigend.

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Wer also denkt, der Hausarztumweg sei eine schnelle Lösung, irrt. Berufstätige müssten doppelt Termine jonglieren – mit langen Wartezeiten, Ausfallstunden und verlorener Arbeitszeit.

Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist das ein Problem: Der Fehlzeiten-Report 2024 zeigt, dass krankheitsbedingte Fehlzeiten ein neues Rekordhoch erreicht haben. Eine zusätzliche Zugangshürde wie das Überweisungsgebot dürfte die Lage weiter verschärfen – für Unternehmen wie für Beschäftigte.

Alltag im Büro: Zwischen Kalender-Chaos und Krankmeldung

Montag, 8:15 Uhr. Jana arbeitet im Projektmanagement eines mittelständischen IT-Dienstleisters. Sie hat seit Tagen stechende Schmerzen im Handgelenk – vermutlich eine Sehnenscheidenentzündung. Ihr Orthopäde hätte morgen früh einen Termin frei. Doch ohne Überweisung vom Hausarzt riskiert sie 200 Euro. Problem: Beim Hausarzt gibt’s den nächsten freien Termin in einer Woche. Also bleibt sie zu Hause, meldet sich krank, wartet – und fällt im Projekt aus.

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Was wie ein Einzelfall klingt, ist Alltag für viele Angestellte. Besonders bei Beschwerden, die klar einem Facharzt zuzuordnen sind – Augen, Haut, Orthopädie – verlängert sich durch das neue Modell die Krankheitsdauer unnötig. Auch der Arbeitgeber verliert: Produktivität sinkt, Projekte verzögern sich, Teams werden belastet. Nur damit ein Formular korrekt abgestempelt wird.

Schichtdienst in der Pflege: Wenn der Weg zum Arzt zur Belastung wird

Noch drastischer ist es bei Berufen mit unregelmäßigen Arbeitszeiten. Nehmen wir Murat, Pflegehelfer in einem Krankenhaus. Seine Schicht beginnt um 6:00 Uhr, er kommt oft erst nach 15:00 Uhr raus. Der Hautarzt, den er wegen eines akuten Ausschlags dringend braucht, hat nur vormittags Sprechstunde – zwischen 8:00 und 13:00 Uhr. Ohne Überweisung: 200 Euro.

Aber wann soll Murat zum Hausarzt, um die überhaupt zu bekommen? Ein Hausbesuch? Gibt es nicht. Termine nach Feierabend? Schwierig. Für ihn heißt das: mindestens einen freien Tag opfern – oft sogar zwei. Erst zum Hausarzt, dann erneut zum Facharzt. Und das, obwohl er gerade in einem Beruf arbeitet, in dem jeder Ausfall weh tut.

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In systemrelevanten Berufen wie Pflege, Einzelhandel oder Logistik bedeutet das: noch mehr Ausfälle in ohnehin schon überlasteten Bereichen. Die politische Idee, Facharztbesuche „effizienter“ zu machen, trifft in der Realität ausgerechnet die, die am wenigsten Flexibilität haben.

Niemand bestreitet, dass das Gesundheitssystem reformiert werden muss. Aber eine Art Strafgebühr ist keine Steuerung, sondern eine Abschreckung und zusätzliche Gängelung. Vor allem für Berufstätige, die ohnehin schon unter Zeitdruck, Personalmangel oder körperlicher Belastung stehen. Die 200-Euro-Hürde setzt genau da an, wo das System selbst nicht funktioniert: an Wartezeiten, Terminvergabe, Überlastung, nur eben nicht bei der Lösung, sondern beim Verursacherprinzip

Quelle: Rheinische Post, GKV-Versichertenbefragung, AOK Fehlzeiten-Report , N-TV

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