Das klassische Acht-Stunden-Prinzip pro Tag passt für viele Unternehmen längst nicht mehr zur Realität moderner Arbeitsorganisation.
Eine aktuelle HR-Studie des ifo-Instituts im Auftrag von Randstad zeigt: Jedes zweite Unternehmen befürwortet die Einführung einer Wochenhöchstarbeitszeit. Statt starrer Tagesgrenzen sollen flexible Wochenkontingente gelten. Vor allem große Unternehmen und die Industrie machen Druck – und wollen damit eine Reform, die grundlegend verändern könnte, wie wir in Deutschland arbeiten.
Industrie, Großbetriebe, Handel: Wer will die Reform?
Die stärkste Zustimmung zur Wochenhöchstarbeitszeit kommt aus der Industrie. Dort sehen 54 % der Betriebe klare Vorteile. Im Handel dagegen liegt der Wert bei nur 43 %. Noch deutlicher ist der Unterschied nach Unternehmensgröße: In Großbetrieben mit mehr als 500 Mitarbeitenden befürworten satte 72 % die Reform – in kleinen Unternehmen mit bis zu 49 Beschäftigten nur 42 %.
Auch das Arbeitszeitmodell spielt eine Rolle: Wo bereits Vertrauensarbeitszeit gilt, liegt die Zustimmung bei 60 %. Unternehmen mit festen Arbeitszeiten hingegen zeigen sich deutlich zurückhaltender (42 %). Die Botschaft dahinter: Wer bereits flexibel arbeitet, will auch beim Gesetz mehr Spielraum.
Zwischen Flexibilität und Überlastung: Wo die Kritik ansetzt
Die Aussicht auf mehr Autonomie klingt verlockend – doch sie hat ihren Preis. Kritiker warnen vor einer Entgrenzung der Arbeit: Wer statt täglich acht Stunden plötzlich zwölf arbeiten darf, gerät schneller in Überlastung. Vor allem, wenn der soziale Druck im Team oder von Vorgesetzten steigt, „freiwillig“ mehr zu leisten.
Auch organisatorisch sehen viele Unternehmen Hürden: Ruhezeiten müssten weiterhin eingehalten, Arbeitszeiten sauber dokumentiert und gesundheitliche Belastungen besser kontrolliert werden. Kein Wunder also, dass 31 % der Unternehmen in der Studie eine neutrale Haltung einnehmen – sie sehen zwar die Chancen, aber auch offene Fragen zur Umsetzbarkeit im Alltag.
Mehr Flexibilität – aber für wen?
Was oft unter „Flexibilität“ verkauft wird, bedeutet in der Realität vor allem eines: Planungsunsicherheit – besonders für Eltern. Denn wer abends länger bleibt, muss morgens später anfangen können – vorausgesetzt, die Kinder sind betreut. Doch genau das ist vielerorts unmöglich.
Die Kinderbetreuungssituation in Deutschland ist dramatisch: Laut Bertelsmann Stiftung fehlen derzeit rund 430.000 Kita-Plätze und knapp 100.000 Fachkräfte. Ohne flächendeckende Betreuung bleibt Arbeitszeitflexibilität ein Privileg – für Kinderlose oder für diejenigen, die familiäre Netzwerke haben.
Gleichzeitig zeigen neue Daten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI): Knapp drei Viertel der Beschäftigten (72,5 %) befürchten negative Folgen, sollten generell Arbeitstage über zehn Stunden erlaubt werden, wie es bei der Umstellung auf eine Wochenhöchstarbeitszeit möglich wäre. Sie rechnen mit gesundheitlichen Belastungen, sinkender Erholungsqualität und einer schlechteren Vereinbarkeit von Arbeit und Familie.
Gerade Frauen sind besonders betroffen, da sie noch immer den Großteil der unbezahlten Care-Arbeit übernehmen. Die Folge: Längere Erwerbsarbeitstage führen zu mehr Belastung und machen es gerade Müttern schwerer, ihre eigene Erwerbstätigkeit auszuweiten.
Die WSI-Studie warnt deutlich vor den Folgen sehr langer Arbeitstage. Rund 72 Prozent der Befragten erwarten negative Auswirkungen auf ihre Erholung, Gesundheit und private Lebensgestaltung, sollte die tägliche Höchstarbeitszeit abgeschafft werden. Besonders Frauen rechnen mit Nachteilen, nicht zuletzt, weil sie deutlich mehr unbezahlte Sorgearbeit leisten.
Die Studie kommt zu dem Schluss: Eine Deregulierung könnte bestehende Ungleichheiten verschärfen, die Erwerbstätigkeit von Frauen behindern und gesundheitliche Belastungen verstärken. Was als mehr Flexibilität verkauft wird, droht in vielen Fällen die Balance zwischen Job und Privatleben endgültig zu kippen
Pilot statt Pauke: Wie Unternehmen jetzt testen können, was wirklich funktioniert
Die politische Debatte ist in vollem Gange – doch Unternehmen müssen nicht abwarten, bis Gesetze geändert werden. Viele können schon heute handeln. Personalexpertin Verena Menne von Randstad rät: Wer über Wochenhöchstarbeitszeit nachdenkt, sollte zunächst mit Pilotprojekten starten. So lassen sich Chancen und Risiken im eigenen Betrieb prüfen – bevor eine breite Umstellung erfolgt.
Wichtig dabei: klare Leitplanken, etwa zur Einhaltung von Ruhezeiten, sowie transparente Zeiterfassung und ein gesundheitsorientiertes Monitoring. Denn mehr Freiheit darf nicht in Selbstausbeutung enden.
Auch das WSI mahnt zu mehr Realitätssinn: Statt gesetzliche Schutzmechanismen abzubauen, brauche es moderne Arbeitszeitmodelle, die auf Lebensphasen, Familienaufgaben und gesundheitliche Belastbarkeit Rücksicht nehmen. Dazu gehören zum Beispiel flexible Teilzeitmodelle, verlässliche Zeitkonten oder eine partnerschaftlich geregelte Care-Zeit.
Was Unternehmen daraus machen, wird auch zur Frage der Wettbewerbsfähigkeit: Wer flexible Arbeitszeitgestaltung mit echter Fürsorge verbindet, erhöht nicht nur die Arbeitgeberattraktivität, sondern sichert sich auch die Loyalität der Beschäftigten in einer Zeit, in der Fachkräfte fehlen.
Arbeit neu denken, aber bitte nicht zulasten der Arbeitnehmer
Die Wochenhöchstarbeitszeit klingt wie ein modernes Upgrade für eine veraltete Arbeitswelt. Aber Flexibilität ist nur dann ein Fortschritt, wenn sie fair verteilt ist. Wenn sie nicht nur Effizienz für Arbeitgeber bringt, sondern auch echte Wahlfreiheit für Beschäftigte – unabhängig von Geschlecht, Familienmodell oder Berufsgruppe. Noch ist das Gegenteil der Fall: Wer Kinder betreut, Angehörige pflegt oder auf seine Gesundheit achten muss, bleibt außen vor.
Quellen: Randstad-ifo-HR-Befragung, Bertelsmann Stiftung, WSI