Es ist ein leiser Abgang, aber einer mit Folgen. Während viele Babyboomer ihre letzten Jahre im Beruf verbringen – oder schon die Abschiedsrede schreiben – spürt der Arbeitsmarkt die ersten Nachwehen ihres Verschwindens. In Verwaltungen, im Handwerk, in der Pflege, im Maschinenbau: Überall dort, wo Erfahrung lange still funktioniert hat, macht sich jetzt das bemerkbar, was lange ignoriert wurde – ein Fachkräftemangel, der nicht nur gekommen ist, um zu bleiben, sondern sich noch zuspitzt.

Anzeige

Das große Schweigen vor dem Abschied

Die Babyboomer, geboren zwischen 1955 und 1969, sind die geburtenstärkste Generation Deutschlands. Sie waren jahrzehntelang das Rückgrat der Erwerbsbevölkerung. Dass sie nun in den Ruhestand gehen, ist keine Überraschung – demografisch gesehen war es seit Jahrzehnten absehbar. Und doch wirkt es, als hätte niemand so richtig hingeschaut.

Vielleicht liegt das auch an einem Generationenversprechen, das stillschweigend galt: Arbeit ist Identität, ist Pflicht, ist Verlässlichkeit. Viele Boomer sind geprägt vom Aufstieg durch Leistung, von Loyalität zum Arbeitgeber, von der Idee, dass man bleibt – bis zur Rente. Und diese Rente? Wird jetzt eingelöst. Still, zuverlässig – und mit ihr verschwinden Millionen Stunden Erfahrung, Know-how, und oft auch soziale Stabilität in Teams.

Ein demografisches Beben in den Engpassberufen

Besonders dramatisch zeigt sich der Generationenwandel in Berufen, die für das tägliche Funktionieren unserer Gesellschaft unverzichtbar sind – und zugleich chronisch unterbewertet. Laut einer aktuellen Analyse des Statistischen Bundesamts waren im Jahr 2023 rund 44 Prozent der Bus- und Straßenbahnfahrer mindestens 55 Jahre alt. Zum Vergleich: Der Anteil älterer Erwerbstätiger liegt branchenübergreifend nur bei etwa 25 Prozent.

Anzeige

Auch andere systemrelevante Berufe verzeichnen eine alarmierende Altersstruktur: In der Logistikbranche gehören 39 Prozent der Berufskraftfahrer im Gütertransport zur Altersgruppe 55plus. In der Fleischverarbeitung sind es 30 Prozent, im Verkauf von Fleischwaren sogar 36 Prozent. Auf dem Bau sieht es kaum besser aus: Ein Drittel der Maurer arbeitet im fortgeschrittenen Erwerbsalter. Selbst die Altenpflege, ohnehin ein Sektor mit Personalmangel, liegt mit 27 Prozent älterer Beschäftigter über dem Durchschnitt.

Doch das Phänomen betrifft nicht nur einzelne Berufe, sondern ganze Wirtschaftsbereiche. Besonders hoch ist der Anteil älterer Beschäftigter im Grundstücks- und Wohnungswesen (33 Prozent), in der Land- und Forstwirtschaft (28 Prozent) sowie im Wirtschaftsbereich Verkehr und Lagerei (ebenfalls 28 Prozent). Etwas geringer ist der Anteil im Handel (24 Prozent) und im Gastgewerbe (17 Prozent).

Nachwuchs bleibt aus: Wer will noch Bus fahren?

Die Zahlen zeigen nicht nur, wie alt viele Belegschaften inzwischen sind – sie machen auch deutlich, wie wenige nachrücken. Gerade einmal 14 Prozent der Bus- und Straßenbahnfahrer sind unter 35 Jahre alt. In der Gesamtwirtschaft liegt dieser Anteil bei über 30 Prozent – mehr als doppelt so hoch.

Anzeige

Die Gründe dafür sind vielschichtig. Körperlich anstrengende und oft schlecht bezahlte Berufe verlieren an gesellschaftlicher Attraktivität. Gleichzeitig haben sich die Bildungs- und Berufsvorstellungen junger Menschen verändert. Wer heute eine Ausbildung beginnt, wählt deutlich häufiger einen IT- oder Büroberuf als das Maurerhandwerk, die Pflege oder den öffentlichen Nahverkehr.

Hinzu kommen schwierige Arbeitsbedingungen: Schichtdienst, körperliche Belastung, psychischer Druck – und das alles bei oft geringen Löhnen. Das betrifft nicht nur das Fahrpersonal, sondern ebenso Beschäftigte in der Fleischverarbeitung, in der Bauwirtschaft und in der Altenpflege.

Das Problem ist damit klar umrissen: In den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren wird ein erheblicher Teil dieser Arbeitskräfte aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Doch der Nachwuchs bleibt aus. Wer übernimmt – und unter welchen Bedingungen?

Anzeige

Die doppelte Lücke: Demografie trifft Mentalitätswandel

Doch der Fachkräftemangel ist nicht nur ein demografisches Phänomen. Er ist auch das Resultat eines Wertewandels – oder besser gesagt: zweier paralleler Realitäten. Während die Babyboomer mit 40-Stunden-Wochen sozialisiert wurden, fragen sich viele Jüngere heute: Wie kann ich arbeiten, ohne dabei auszubrennen?

Diese Fragen sind legitim – und notwendig. Doch sie treffen auf Systeme, die jahrzehntelang vom Selbstverständnis der Boomer lebten: hohe Präsenz, wenig Flexibilität, starkes Durchhalteethos. Der Übergang von einer leistungsstarken Masse zu einer ausgedünnten Belegschaft mit neuen Bedürfnissen ist nicht nur eine Herausforderung für Personalabteilungen. Es ist eine tektonische Verschiebung im Selbstverständnis von Arbeit.

Verlängerung? Nein, danke.

Ein beliebter Vorschlag: Babyboomer sollen einfach länger arbeiten. Sie sind gesund, leistungsfähig, haben Erfahrung – warum nicht? Die Antwort ist ebenso einfach wie unangenehm: Weil sie nicht mehr wollen.

Anzeige

Lese-Tipp: Jeder Vierte will länger arbeiten – aus Überzeugung oder aus Not?

Weil viele nach Jahrzehnten der Loyalität spüren, dass sie nicht als Mensch, sondern als Ressource gesehen werden. Weil sie den Wandel spüren, der nicht der ihre ist. Und weil auch sie ein Recht darauf haben, sich aus einem System zu lösen, dem sie ein Leben lang gedient haben.

Zudem: Wer in sozialen Berufen oder in körperlich anstrengenden Jobs gearbeitet hat, kann nicht einfach „verlängern“. Die Forderung nach längerer Erwerbsbeteiligung übersieht oft, dass viele längst an der Grenze ihrer Belastbarkeit arbeiten – oder darüber hinaus.

Anzeige

Wenn Erfahrung geht

Der vielleicht gravierendste Punkt: Viele Unternehmen haben es versäumt, Wissen strukturiert zu sichern. Der Abgang von Babyboomern reißt nicht nur Lücken in Personalpläne – sondern auch in Prozesse, Netzwerke und Organisationskultur. Mentoring, Job-Sharing, Übergabemodelle? Viel zu selten institutionalisiert. Das Ergebnis: Wissen verschwindet mit den Menschen, die es tragen.

Generationen ohne Gespräch

Was zusätzlich fehlt, ist das Gespräch. Zwischen den Generationen. Zwischen den Vorstellungen von Arbeit, von Leben, von Zukunft. Stattdessen herrscht oft gegenseitiges Unverständnis: Die Jüngeren fühlen sich überfordert von der Last, die zurückbleibt. Die Älteren fühlen sich übersehen, wenn ihre jahrzehntelange Arbeit als „veraltet“ abgetan wird. Doch ohne diese Verständigung bleibt nur das, was gerade Realität ist: ein leerer Platz am Schreibtisch – und niemand, der ihn füllen kann oder will.

Was jetzt hilft: Brücken bauen statt Schuldzuweisungen

Der Fachkräftemangel ist kein Problem, das sich mit kurzfristigen Recruiting Kampagnen lösen lässt. Er braucht eine gemeinsame Anstrengung. Und er braucht neue Antworten:

Anzeige
  • Wie kann generationenübergreifendes Arbeiten aussehen, das beide Seiten ernst nimmt?
  • Wie schaffen wir Bedingungen, unter denen Ältere bleiben wollen – nicht müssen?
  • Und wie gestalten wir Übergänge so, dass Erfahrung nicht verloren geht, sondern weiterwirkt?

Ein Abschied mit Folgen – und Möglichkeiten

Die Babyboomer verschärfen den Fachkräftemangel nicht, weil sie gehen. Sondern weil wir lange so getan haben, als würden sie nie gehen.

Was bleibt, ist ein leerer Raum – nicht nur personell, sondern auch kulturell. Ihn zu füllen, wird nicht leicht. Aber es ist eine Chance: für neue Ideen von Arbeit, für echte Zusammenarbeit der Generationen – und vielleicht auch für ein Arbeitsleben, das nicht nur Leistung misst, sondern Erfahrung würdigt.

Anzeige
Hinweis in eigener Sache:  Du fühlst dich im Job frustriert und brauchst einen klaren Plan für deinen Neustart? In unserem Guide „Die Exit-Strategie“ erfährst du, wie du deinen Absprung sicher meisterst – von der Kündigung bis zur Jobsuche. Hier geht’s zum Guide!
Anzeige