Ein Vorschlag sorgt aktuell für Wirbel: Senioren könnten vor dem Renteneintritt einen sozialen Pflichtdienst leisten. Der Generationenforscher Klaus Hurrelmann hat ihn laut Spiegel ins Spiel gebracht, als Antwort auf die wachsende Ungleichverteilung gesellschaftlicher Lasten. Doch unabhängig davon, ob man diese Idee gutheißt oder nicht: Sie verweist auf eine viel grundlegendere Frage. Nämlich: Wer trägt eigentlich unsere Gesellschaft, und ist das noch gerecht verteilt?
Ein bröckelnder Generationenvertrag
Der Generationenvertrag, auf dem unser Sozialstaat fußt, ist ins Wanken geraten. Immer weniger junge Menschen finanzieren durch ihre Arbeit immer mehr Rentnerinnen und Rentner – bei gleichzeitig wachsender Staatsverschuldung, wachsender Pflegekrise und globaler Unsicherheit. All das trifft besonders die Jüngeren, denen nicht nur finanzielle Lasten, sondern auch psychische Krisen zugemutet werden. Studien zeigen: Noch nie war die psychische Belastung junger Menschen so hoch wie heute. Stress, Zukunftsangst, Ohnmachtsgefühle – jung sein war schon mal leichter.
Gleichzeitig profitieren ältere Generationen nach wie vor von sozialen Sicherungssystemen, die unter ganz anderen wirtschaftlichen Bedingungen aufgebaut wurden: niedrige Arbeitslosigkeit, stabile Rentenversprechen, erschwinglicher Wohnraum, steigende Löhne. Viele dieser Errungenschaften sind heute brüchig geworden oder für jüngere Generationen unerreichbar. Das erzeugt ein Spannungsverhältnis, das sich nicht durch bloßes Appellieren an gegenseitiges Verständnis auflösen lässt.
Verantwortung verschoben statt geteilt
Doch statt diese Ungleichgewichte aktiv anzugehen, duckt sich die Politik oft weg. Reformen, die wehtun könnten, werden auf die lange Bank geschoben. Die Renten bleiben stabil, das Thema Renteneintrittsalter wird weiterhin diskutiert. Gleichzeitig werden junge Menschen mit Appellen zu mehr Verantwortung, mehr Arbeit, mehr Wehrhaftigkeit überschüttet. Dieses Ungleichgewicht spürt man nicht nur in Zahlen, sondern auch im gesellschaftlichen Klima: Junge Menschen fühlen sich überfordert und alleingelassen – und teils als Sündenböcke stilisiert, wenn sie Kritik äußern.
In diesem Licht ist Hurrelmanns Idee vom Pflichtdienst für Senioren ein Weckruf, nicht als fertiger Lösungsentwurf, sondern als Symbol: Solidarität darf keine Einbahnstraße sein. Wenn wir gesellschaftlichen Zusammenhalt wirklich wollen, dann müssen sich alle Generationen daran beteiligen. Nicht mit Pflichtdiensten per Dekret, aber mit einer neuen Selbstverständlichkeit: dass auch die ältere Generation ihren Teil zur Stabilität und zum Gemeinwohl beiträgt, über Steuern, über Engagement, über Mitverantwortung.
Ein neuer Gesellschaftsvertrag
Die sozialen Herausforderungen der Gegenwart – vom Pflegenotstand über Bildungskrisen bis hin zum Klimawandel – sind so gewaltig, dass sie nur generationenübergreifend zu bewältigen sind. Ein intergenerationaler Gesellschaftsvertrag müsste auf Gegenseitigkeit beruhen: Die Jungen brauchen Zukunftsperspektiven und echte Mitbestimmung, die Alten verdienen Respekt und Sicherheit, aber auch die Bereitschaft, Privilegien zu hinterfragen, die längst nicht mehr selbstverständlich sind oder so nicht aufrechterhalten werden können.
Die Gesellschaft von morgen braucht nicht mehr Polarisierung, sondern mehr Verständigung. Es geht nicht um Jung gegen Alt. Es geht um ein Miteinander auf Augenhöhe. Und um die ehrliche Bereitschaft, sich nicht nur das zu nehmen, was einem zusteht, sondern auch das zu geben, was andere brauchen. Es geht um eine neue Kultur des Teilens, der Verantwortung und der Generationensolidarität.
Die Debatte um einen Pflichtdienst für Senioren ist unbequem, aber notwendig. Wer will, dass die Jugend stark und motiviert bleibt, muss auch sie stärken. Und wer das Glück hatte, in einem funktionierenden System alt zu werden, sollte mithelfen, dass dieses System nicht völlig zusammenbricht.
Nachgefragt: Ist ein sozialer Pflichtdienst für Senioren ein sinnvoller Impuls für mehr Solidarität oder ein falsches Signal?
Verwendete Quellen: NTV