Was wäre, wenn Unternehmen mit Geld so sorglos umgehen würden wie mit dem, was sie „Human Capital“ nennen? Richtig, sie wären längst pleite. Doch bei Menschen? Da wird fröhlich draufgelegt. Noch eine Aufgabe. Noch ein Ziel. Noch ein Tool. Hauptsache, die Zahlen stimmen. Was das mit den Menschen macht? Eher zweitrangig.

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Mehr Verantwortung, weniger Kontrolle? Leider andersrum

Ambitionierte Ziele klingen ja auch nach Fortschritt: flache Hierarchien, agile Teams, Eigenverantwortung. Doch in der Praxis sieht’s freilich anders aus. Die neuen Arbeitswelten geben vor, Freiheit zu bringen – tatsächlich liefern sie vor allem eins: Druck. Eine Studie des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF München) zeigte schon vor vielen Jahren, dass Selbstverantwortung plus Leistungsdruck zu überdimensionaler Belastung führt. Mehr als 100 Beschäftigte, Führungskräfte und Experten wurden dazu befragt.

Ihr Fazit: Autonomie? Oft reine Illusion. Stattdessen: Mikromanagement durch das Hintertürchen. Meetings mit vermeintlich offener Struktur, bei denen doch jeder weiß, was das gewünschte Ergebnis ist. Mitarbeitergespräche mit der Frage nach „individueller Entwicklung“, bei denen dann doch nur die Zielerreichung abgefragt wird. „Verantwortung“ heißt häufig: Du bekommst den Druck, aber nicht die Mittel.

Ziele ohne Realitätsbezug

Früher fragte man: Was schaffen wir mit den vorhandenen Ressourcen? Heute wird gefragt: Was wollen wir verdienen? Der Rest wird runtergebrochen – ohne Rücksicht auf Teams, Kapazitäten oder Realität. Wer nicht liefert, wird verglichen, bewertet, aussortiert. Und wenn man trotz allem liefert? Dann heißt’s: Geht doch. Nächste Runde.

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Ein Teamleiter in der Industrie bringt es auf den Punkt: „Wir sollen 15 Prozent mehr Output liefern, obwohl wir zwei Leute weniger sind als letztes Jahr. Und wenn wir es irgendwie hinkriegen, heißt es: Seht ihr, geht doch.“ Die Botschaft: Wer seine Grenzen nicht sprengt, strengt sich nicht genug an. Dass dabei Schlaf, Familie oder Gesundheit auf der Strecke bleiben, wird ignoriert. Und wenn das Team nachfragt, wie das neue Ziel zu schaffen ist, kommt oft die Antwort: „Seid kreativ.“

Dauer-Transformation statt echter Strategie

Restrukturieren ist das New Normal. Kaum ein Jahr ohne Umbau, kaum ein Bereich ohne Reorganisation. Eine aktuelle Umfrage der Managementberatung Horváth unter 200 Top-Führungskräften zeigt: 89 % der Industrieunternehmen in Deutschland befinden sich aktuell in Transformationsprozessen. Fast die Hälfte hat im selben Jahr gleich mehrere Programme gestartet. Problem: Nur 28 % stemmen die Transformation intern. Der Rest holt sich externe Hilfe, weil Know-how, Strukturen und Kapazitäten fehlen.

Ergebnis: Verunsicherung, Mehrarbeit, Frust. In vielen Unternehmen jagt inzwischen eine Neuausrichtung die nächste. Erst Fusion mit dem Schwesterbereich, dann Einführung eines neuen CRM-Systems, danach ein Rebranding. Wer das Pech hat, in mehreren dieser Projekte gleichzeitig involviert zu sein, erlebt den Job als ständige Baustelle. Prozesse werden umgestellt, während die alten noch laufen. Neue Tools kommen, bevor das letzte verstanden wurde. Führungskräfte wechseln, Ziele auch. Planungshorizont: maximal drei Monate. Orientierung? Fehlanzeige.

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Technik soll helfen – macht aber oft alles schlimmer

KI, Automatisierung, neue Tools – klingt nach Entlastung. Ist aber häufig das Gegenteil. Denn die Aufgaben verschwinden nicht, sie verteilen sich nur auf weniger Schultern. Nebenbei soll man sich noch in neue Systeme einarbeiten.

Ergebnis: ständiger Anpassungsstress, störende Wechsel, kaum Stabilität. Besonders belastend: Die Einarbeitung in komplexe Software ohne ausreichende Schulung. Zwei Stunden Zoom-Einweisung, danach „learning by doing“ im Echtbetrieb. Parallel dazu laufen die alten Aufgaben weiter. Kommunikation verteilt sich auf fünf Kanäle: Mail, Teams, Slack, Jira, Intranet. Alles ist wichtig, alles ist dringend. Support gibt es selten, dafür das Versprechen, dass die neue Technologie alles einfacher macht. Nur: einfacher fühlt sich nichts an.

„Selbstorganisation“ mit Kontrollzwang

Ein besonders absurder Trend: Die angebliche Selbststeuerung trifft auf starre Regeln, Kennzahlen und Systemvorgaben. Frei entscheiden? Nur, wenn es ins Reporting passt.
Eine Kundenberaterin erzählt: „Ich soll kundenorientiert handeln, aber darf nur Skripts ablesen. Jeder Schritt ist vorgegeben – Vertrauen ins Team? Fehlanzeige.“ Statt Lösungen zu finden, müssen Mitarbeitende erst 27 Kästchen im System abhaken. Wer abweicht, hat sofort Erklärungsbedarf.

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Die psychische Rechnung zahlen die Mitarbeiter

Die Folgen dieser Dauerbelastung sind nicht immer sofort sichtbar. Es muss nicht gleich ein Burnout sein. Viel häufiger ist die innere Kündigung anzutreffen. Menschen, die früher motiviert waren, machen nur noch Dienst nach Vorschrift. Viele berichten davon, abends nicht mehr abschalten zu können, im Schlaf weiterzuarbeiten oder morgens mit Druckgefühl aufzuwachen. Konzentration fällt schwer, kleine Fehler nehmen zu, die Stimmung im Team – angespannt. Und wer endlich die Reißleine, wird ersetzt. Wer bleibt, muss auffangen. So dreht sich die Spirale weiter – nach unten.

Selbstverantwortung braucht Spielraum

Mehr Personal. Mehr Zeit. Mehr Mitsprache. Echte Selbstverantwortung braucht Spielraum, nicht nur Erwartungen. Wer agile Methoden einsetzt, muss auch bereit sein, Teams bei Entscheidungen einzubeziehen. Wer Transformation predigt, muss Ressourcen zur Verfügung stellen, bevor der Umbau beginnt. Wer Gesundheit fördern will, darf Belastung nicht romantisieren. Unternehmen brauchen Zielsetzungen, die sich an realen Kapazitäten orientieren. Transformationen müssen mit klarer Kommunikation begleitet werden. 

Wachstum um jeden Preis?

Was als Aufbruch, Wachstum und Transformation verkauft wird, ist oft pure Überforderung. Und die ist schlicht hausgemacht. Wer ständig „noch eine Schippe drauf“ packt, gräbt irgendwann die Basis ab. Nämlich die Menschen, die alles tragen sollen. Nur: Wie lange noch?

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