„Wie reagieren Sie, wenn Mitarbeitende Kritik äußern?“ Als Anna diese Frage im Bewerbungsgespräch stellt, wird ihr Gegenüber plötzlich fahrig. Die entspannte Atmosphäre, das selbstsichere Lächeln – alles weicht einem merkwürdigen Ernst. Es folgt eine ausweichende Antwort über Feedbackprozesse, offene Türen und regelmäßige Teamrunden. Doch Anna spürt, dass hinter den Worten wenig Substanz steckt. Der Chef erzählt von Kultur und familiärem Betriebsklima, nicht von konkreten Erlebnissen.

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Dabei hatte sie gehofft, endlich in ein Team zu kommen, in dem man nicht nur arbeiten, sondern auch mitgestalten, ja sogar anecken, darf. Ihre letzte Stelle war das Gegenteil: Keine Mitsprache, kein Vertrauen, dafür aber der täglich Blick über die Schulter. Gespräche fanden zwar statt, aber mit Protokoll und Checkliste versteht sich.

Was Chefs wirklich über Kritik denken, verrät schon ihr Blick

Diese Erfahrung hat sie geprägt. Deshalb fragt sie heute gezielt nach. Denn die Reaktion auf diese eine Frage sagt oft mehr über die Unternehmenskultur aus als jedes schön formulierte Leitbild.

Viele Führungskräfte können problemlos auf Karrieremesse referieren – darüber, wie offen und transparent sie angeblich führen. Sie sprechen von „Feedbackbereitschaft“ und „Lernkultur“. Doch sobald es konkret wird, bleiben sie vage. Aussagen wie „Wir schätzen ehrliche Rückmeldungen, solange sie respektvoll sind“ Und genau hier beginnt die Unschärfe. Was ist respektvoll? Wer entscheidet das? Und was passiert, wenn die Kritik nicht in den Rahmen passt?

Chefs, die sich bewusst mit Kritik auseinandersetzen, sprechen anders. Sie erzählen von Momenten, in denen sie durch Rückmeldungen aus dem Team ihre Entscheidungen überdacht haben. Oder davon, wie sie selbst einmal mit einem Fehler konfrontiert wurden – und was sie daraus gelernt haben. Sie berichten ehrlich, dass solche Situationen nie einfach sind, aber wichtig.

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Wenn Feedback zur Mutprobe wird, stimmt was nicht

Wenn Führungskräfte Kritik nur theoretisch behandeln, ist Vorsicht geboten. Denn dort, wo Mitarbeitende sich nicht trauen, unbequeme Dinge anzusprechen, werden Probleme nicht gelöst – sondern sauber unter den Teppich gekehrt. Und genau das tun viele Führungskräfte auch mit ihren eigenen Fehlern. Bloß nicht drüber reden, bloß keine Angriffsfläche bieten. Die Folge: Entwicklung versandet. Denn wie soll sich etwas verbessern, wenn niemand den Mut hat, den Status quo infrage zu stellen? Wie soll man Prozesse optimieren oder das Miteinander stärken, wenn alle so tun, als wäre alles bestens?

Anna hat sich nach dem Bewerbungsgespräch gegen das Jobangebot entschieden. Nicht wegen des Gehalts oder der Aufgaben. Das war üppig und der Tätigkeitsrahmen fordernd und interessant. Aber sie hat gespürt, dass ihre Stimme dort keinen Platz hätte.

Schon gewusst? Laut einer internationalen Umfrage des Institute of Business Ethics hat jede vierte beschäftigte Person im letzten Jahr Fehlverhalten oder illegale Vorgänge im Unternehmen mitbekommen – deutlich mehr als noch 2021. Und trotzdem: Ein großer Teil der Beschäftigten sagt nichts. 34 % glauben, dass sich eh nichts ändern würde. Weitere 34 % haben einfach Angst, dass eine Meldung ihnen den Job kosten könnte. Das Problem ist nicht nur das Fehlverhalten, sondern die Angst davor, es überhaupt anzusprechen.

Diese Fragen bringen Blender-Chefs ins Schwitzen

Für alle, die sich auf Jobsuche befinden, lohnt es sich, genau hinzuhören und zwischen den Zeilen zu lesen. Wer wissen will, wie offen ein Unternehmen für Feedback und Kritik wirklich ist, kann gezielt nachfragen:

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  • „Erinnern Sie sich an ein Feedback aus dem Team, das bei Ihnen etwas verändert hat?“
  • „Wie gehen Sie mit Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Teams um?“
  • „Gab es schon Situationen, in denen jemand mit ihrer Entscheidung unzufrieden war? Wie wurde damit umgegangen?“

Aus diesen Beispielen kann sich jeder die passenden Fragen ableiten – oder noch spezifischere, zugeschnitten auf Firma und Position. Die Antworten darauf müssen auch nicht perfekt sein. Aber sie sollten ehrlich und aufrichtig klingen. Was wirklich dahintersteckt, zeigt sich ohnehin erst im Joballtag. Doch wer in ein Unternehmen einsteigt, in dem Kritik zwar geduldet, aber nicht ernsthaft aufgenommen und angegangen wird, wird sich früher oder später in einem Team voller Ja-Sager wiederfinden. Für Mitarbeitende bedeutet das: wenig Einfluss, wenig Entwicklung – und irgendwann den Wunsch, weiterzuziehen.

Anna hat diesen Schritt schon gemacht. Sie arbeitet inzwischen in einem Unternehmen, in dem Meetings auch mal Reibung erzeugen dürfen. In dem Diskussionen nicht als Gefahr für den eigenen Machtstatus gelten, sondern als Teil einer fruchtbaren Zusammenarbeit verstanden werden.

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