Stellen wir uns eine typische Szene aus dem Führungsalltag vor: Es ist Dienstag, später Vormittag. Du sitzt in einem dieser zähen Meetings. PowerPoint-Folien wechseln sich ab, eine Tabelle jagt die nächste. Während vorn jemand die aktuelle Umsatzprognose erläutert, schweifen deine Gedanken ab. Im Posteingang wartet eine eskalierte E-Mail. Zwei Mitarbeitende streiten seit Wochen, die Stimmung im Team kippt. Gleichzeitig meldet die Personalabteilung dringenden Handlungsbedarf an, und dein Kalender ist voll bis zum Anschlag.
Wie soll man da eigentlich noch gelassen bleiben? Geschweige denn Haltung zeigen?
Hier liegt das Dilemma vieler Führungskräfte: Der Druck kommt von allen Seiten. Von oben, von unten, aus der eigenen Mitte. Die einen erwarten Zahlen, die anderen Aufmerksamkeit. Und während der Kopf versucht, den Überblick zu behalten, meldet sich der Bauch längst mit Unbehagen: Schaffe ich das noch? Wie lange geht das gut?
Führung lässt sich nicht wegorganisieren
Viele versuchen dann, die Situation durch ein mehr an Organisation zu lösen. To-do-Listen optimieren, Aufgaben delegieren, Meetings verdichten. Der Gedanke dahinter: Wenn ich es nur richtig „neu“ strukturiere, löst sich das Chaos von allein.
Doch Führung erschöpft sich längst nicht mehr in Prozessoptimierung. Sie verlangt mehr – nämlich eine klare Haltung. Nicht nur gegenüber dem Team oder der Chefetage. Sondern auch sich selbst gegenüber.
Denn wenn die Anforderungen steigen, die Konflikte zunehmen und die Unsicherheiten wachsen, hilft keine App und kein Scrum-Board der Welt. Dann braucht es innere Klarheit. Ein Verständnis davon, wofür man steht. Was einem wichtig ist. Und wo die eigenen Grenzen liegen.
Vom Aufgabenmanager zum Haltungsträger
Natürlich, Anforderungen an Führungskräfte gab es schon immer. Aber die Spielregeln haben sich verändert. Es reicht längst nicht mehr, fachlich stark zu sein oder eine inspirierende Vision präsentieren zu können. Wer heute führt, muss Orientierung geben in einer Arbeitswelt, die sich schneller verändert, als jede Strategie es vorhersehen kann.
Das bedeutet auch, schwierige Gespräche zu führen, wenn andere lieber schweigen. Entscheidungen zu vertreten, auch wenn sie unpopulär sind. Und sich selbst nicht zu verlieren in einem Job, der permanent Aufmerksamkeit fordert.
Psychologisch betrachtet sprechen wir hier von Selbstführung – der Fähigkeit, die eigenen Motive, Werte und Emotionen zu kennen und aktiv zu steuern. Wer das nicht tut, läuft Gefahr, nur noch zu reagieren: auf Krisen, auf Erwartungen, auf Anforderungen.
Haltung zeigt sich in den kleinen Momenten
Oft klingt „Haltung“ abstrakt. Nach Coaching-Rhetorik oder Managementphilosophie. Aber in Wahrheit zeigt sich Haltung nicht in großen Reden oder visionären Mails ans Team. Sie zeigt sich im Alltag, in den kleinen, unbequemen Situationen:
- Wenn ein Mitarbeiter wiederholt die Deadline reißt – und du dich fragen musst: Welche Konsequenzen erfordert das jetzt?
- Wenn dein eigener Chef eine Entscheidung verlangt, die du inhaltlich nicht vertreten kannst.
- Wenn dein Team längst überlastet ist, aber der Vorstand weitere Projekte ankündigt und auf Zielerreichung pocht.
Haltung heißt dann: Position beziehen. Auch wenn es unangenehm wird. Nicht um jeden Preis Recht haben. Aber wissen, wo die eigene Linie verläuft – und bereit sein, diese zu verteidigen.
Warum Haltung gesund hält
Der größte Irrtum vieler Führungskräfte ist, dass sie denken, sie müssten vor allem für andere da sein. Für das Team, für die Vorgesetzten, für die Zahlen. Natürlich gehört das dazu. Aber wer sich selbst dabei vergisst, zahlt einen Preis.
Studien zeigen: Führungskräfte, die ihre eigenen Werte und Bedürfnisse ignorieren, laufen eher Gefahr, psychisch zu erschöpfen. Burnout ist bei ihnen nicht selten das Ergebnis jahrelanger Selbstverleugnung. Immer weiter funktionieren, Erwartungen erfüllen, Konflikte vermeiden – bis irgendwann nichts mehr geht. Gesunde Führung beginnt deshalb bei der Selbstklärung:
- Was treibt mich an?
- Wofür stehe ich?
- Was kostet mich Kraft – und was gibt mir Energie?
Wer das weiß, kann auch besser für andere da sein. Weil er oder sie nicht aus dem letzten Loch pfeift, sondern aus innerer Stabilität heraus agiert.
Zwischen Stärke und Verletzlichkeit
Vielleicht ist das die ehrlichste Erkenntnis moderner Führung: Dass niemand mehr dauerhaft den unerschütterlichen Macher spielen kann.
Menschen folgen Menschen, nicht Maschinen. Sie vertrauen Führungskräften, die zugeben können, wenn sie selbst ringen. Die transparent machen, dass auch sie nicht auf alles eine Antwort haben.
Führung heute heißt: Stark sein, wenn es drauf ankommt – und Schwäche zeigen, wenn es ehrlich ist. Entscheidungen treffen, aber auch zuhören. Vorangehen, aber den Raum lassen, dass andere mitgestalten. Das ist anstrengend. Aber auch befreiend. Denn wer eine klare Haltung hat, muss nicht alles mitmachen. Muss nicht überall perfekt sein. Sondern weiß, was zählt. Für sich. Für das Team. Und für die Sache.
Und am Ende ist das vielleicht die wichtigste Aufgabe von Führung: Nicht alle glücklich zu machen. Nicht alle Konflikte zu vermeiden. Sondern dafür zu sorgen, dass alle wissen, woran sie sind – auch man selbst.