Wir sollen wieder fleißig, wieder produktiv werden. Nicht durch Zwang, sondern durch „mehr Flexibilität“. Gemeint ist: Die gesetzlich fixierte Achtstundengrenze pro Tag soll fallen. Stattdessen soll künftig eine Wochenarbeitszeit gelten, die individuelle Peaks erlaubt – auch mal zehn oder elf Stunden am Stück. Hauptsache, der Wochenschnitt passt. Was das bedeutet? Das Land der Dichter und Denker soll wieder malochen.
Hast du dich schon mal gefragt, warum du eigentlich jeden Tag acht Stunden arbeitest?
1918 war das Gesetz zur täglichen Höchstarbeitszeit ein Fortschritt. Es war ein Teil der Errungenschaften der Novemberrevolution und markierte einen Meilenstein für die Rechte der Arbeiter. Doch die Welt hat sich weiterentwickelt: Heute arbeiten Menschen in Videocalls rund um die Welt, schreiben Mails spätabends vom Küchentisch – und rechnen ihre Zeit immer noch wie in der Industriegesellschaft.
Ein modernes Projekt dauert eben nicht exakt von 9 bis 17 Uhr. Kreativität hält sich nicht an Stechuhrzeiten. Und globale Zusammenarbeit endet nicht am deutschen Feierabend. Was also hält uns noch in der Zeitlogik der Fabrik- und Fließbandarbeit?
Was die Regierung plant – und warum sie es so eilig hat
Die geplante Reform sieht vor, die tägliche Höchstarbeitszeit von acht auf eine wöchentliche Betrachtung umzustellen – unter Einhaltung der EU-Arbeitszeitrichtlinie (48 Stunden/Woche inkl. Pausen). So könnten Beschäftigte künftig einzelne Tage länger arbeiten, dafür aber an anderen Tagen früher Schluss machen oder ganz frei nehmen.
Das Ganze soll „mehr Zeitsouveränität“ ermöglichen. Vor allem für Beschäftigte in kreativen, projektbezogenen oder internationalen Arbeitsfeldern. Doch zwischen den Zeilen schwingt auch ein Appell mit: Deutschland muss wieder wachsen. Und dafür muss es wieder mehr arbeiten.
Was sagt der Koalitionsvertrag: Die neue Regierung will den Wandel der Arbeitswelt nutzen – und dafür das Arbeitszeitgesetz reformieren. So heißt es: „Wir wollen im Einklang mit der europäischen Arbeitszeitrichtlinie die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen – auch und gerade im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf.“ Versprochen wird ein Dialog mit den Sozialpartnern, ebenso wie der Erhalt bestehender Ruhezeiten. Kein Beschäftigter solle zur Mehrarbeit gezwungen werden. Gleichzeitig plant die Koalition steuerliche Anreize für Mehrarbeit und Prämien bei Arbeitszeitausweitungen – ein klares Signal: Leistung soll sich wieder lohnen?.
Denn das Land steckt tief in einer strukturellen Wachstumsschwäche. Eine alternde Gesellschaft, ein stagnierender Mittelstand, Fachkräftemangel, Energiepreise, Bürokratie – und: sinkende Arbeitsstunden pro Kopf.
Laut einer Analyse des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) ist die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigem in Deutschland von etwa 1.377 Stunden im Jahr 2000 auf 1.301 Stunden im Jahr 2023 gefallen – ein Rückgang von knapp 5,5 %. Dieser Trend wird durch den steigenden Anteil von Teilzeitarbeit und flexiblen Arbeitszeitmodellen begünstigt. Gleichzeitig nimmt der Druck auf Leistung, Effizienz und Innovation zu, da Unternehmen sich im globalen Wettbewerb behaupten müssen und der Fachkräftemangel zusätzliche Herausforderungen schafft.
Mehr Zeit heißt nicht mehr Produktivität – oder doch?
Länger arbeiten heißt nicht automatisch besser arbeiten. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass überlange Arbeitszeiten häufig das Gegenteil bewirken – sie führen zu sinkender Produktivität, einer höheren Fehlerquote und mehr Krankheitsfällen. Meiner Meinung nach sind sechs Stunden das Maximum, um wirklich konzentriert Leistung zu erbringen. Danach sinkt die Kurve rapide ab. Achtstundenarbeitstage haben demnach ihre Daseinsberechtigung.
Aber: Flexiblere Arbeitszeiten – also nicht mehr Arbeit, sondern anders verteilte – können die Leistungsfähigkeit durchaus stärken. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) betont: Wer über Beginn und Ende seiner Arbeit mitbestimmen kann, ist meist zufriedener und seltener krank. Vorausgesetzt, es gibt verbindliche Regeln zu Ruhezeiten, klare Grenzen zur Erreichbarkeit – und die Flexibilität wird nicht zur Selbstausbeutung.
Länder wie Dänemark und die Niederlande zeigen aber auch, dass das Modell einer flexiblen wöchentlichen Arbeitszeit funktioniert – vorausgesetzt, es wird klug umgesetzt. Die Niederlande etwa haben eine Teilzeitquote von über 50 %, wobei Frauen besonders häufig in Teilzeit arbeiten. Gleichzeitig gehört die Produktivität pro Arbeitsstunde zu den höchsten Europas. Diese Kombination aus Flexibilität und Effizienz beweist, dass weniger Arbeitszeit nicht zwangsläufig geringere Leistung bedeutet, sondern sogar zu einer besseren Work-Life-Balance und höherer Zufriedenheit beitragen kann.
Wer profitiert – und wer verliert?
Profiteure sind klar benannt: Menschen mit hoher Selbststeuerung, Berufe in der IT, Beratung, Medien, Wissenschaft. Wer ohnehin projektbasiert arbeitet, kann durch Zeitverschiebungen produktiver werden – etwa bei der Zusammenarbeit mit Teams in anderen Zeitzonen. Auch Eltern oder Pflegende könnten Arbeit und Privatleben flexibler aufeinander abstimmen.
Verlierer? Arbeitnehmer in Dienstleistungsberufen, im Handel, in der Pflege oder Logistik. Also genau jene Branchen, in denen ohnehin der Personalmangel am größten ist – und wo der „Flexibilitätswunsch“ der Arbeitgeber oft ein anderes Gesicht trägt: mehr Stunden, weniger Planbarkeit, höherer Druck.
Doch: Wenn gesetzliche Grenzen fallen oder aufgeweicht werden, steigt auch die Gefahr von Überstunden ohne Ausgleich – vor allem dort, wo Beschäftigte wenig Mitspracherecht haben.
Zwischen Ermächtigung und Entgrenzung
Die Arbeitswelt steht damit an einem Scheideweg. Entweder wir schaffen ein neues Modell der Eigenverantwortung, das den Menschen mehr Freiheit und Gestaltungsspielraum gibt – oder wir öffnen die Tür für eine neue Form der Selbstausbeutung, in der Leistung keine Pause mehr kennt.
Denn Zeit ist nicht nur Geld. Zeit ist auch Beziehung, Erholung, Sinn. Und genau das gerät unter Druck, wenn die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit weiter verschwimmt.
Der BKK-Gesundheitsreport 2024 zeigt: Immer mehr Beschäftigte melden sich wegen psychischer Erkrankungen krank – oft über Wochen oder Monate. Besonders betroffen sind Arbeitsumfelder mit hoher Flexibilität, aber wenig Struktur: Wer ständig erreichbar ist, kaum abschalten kann und unter wachsendem Erwartungsdruck steht, riskiert Erschöpfung, Depression oder Burnout?.
Und wenn wir den Achtstundentag ganz abschaffen?
Vielleicht steckt im Bruch mit dem alten Modell auch eine Chance: Arbeit endlich neu zu denken. Nicht mehr als starre Verpflichtung von 9 bis 17 Uhr, sondern als dynamischen Teil unseres Lebens – in Balance mit Familie, Gesellschaft und Erholung.
Aber das gelingt nur, wenn wir nicht länger Leistung an Anwesenheit messen. Wenn Unternehmen nicht mehr Flexibilität nur einfordern, sondern auch ermöglichen. Und wenn Politik nicht nur Wachstum will, sondern auch Schutz bietet.