Die Frage nach dem „Wie lange?“ ist nicht nur eine politische, sondern eine zutiefst menschliche. Die Diskussion um das Rentenalter gewinnt an Schärfe. Doch während sich politische Debatten oft in Finanzierungsmodellen und Rechenformeln verlieren, zeigt eine neue forsa-Studie im Auftrag von XING: Es sind nicht nur ökonomische Fragen, die das Arbeiten im Alter prägen – es sind existenzielle.
Fast ein Viertel der Babyboomer-Generation will freiwillig über das gesetzliche Rentenalter hinaus weiterarbeiten. Nicht aus Not, sondern aus Überzeugung. Was also bedeutet Arbeit im höheren Lebensalter: Pflicht? Privileg? Lebenselixier?
Arbeit als psychosoziale Konstante
70?% der Befragten, die weiterarbeiten möchten, nennen den Wunsch, geistig fit zu bleiben. Für mehr als die Hälfte sind soziale Kontakte entscheidend. Und knapp jeder Zweite betont den Wunsch nach persönlicher Sinnerfüllung.
Diese Zahlen zeigen: Arbeit hat sich gewandelt. Vom reinen Existenzmittel zur Quelle von Sinn, Struktur und Zugehörigkeit. Für viele ist sie ein verlässlicher Anker wo andere Konstanten – etwa Partnerschaft, Familie oder Gesundheit – ins Wanken geraten können.
Und das ist ganz plausibel: Der Mensch ist ein soziales und tätiges Wesen. Er definiert sich nicht nur über das, was er ist, sondern vor allem über das, was er tut. Wer nach Jahrzehnten der Erwerbsarbeit abrupt in den Ruhestand tritt, verliert oft mehr als nur ein Einkommen. Er verliert ein Stück Identität.
Der Ruhestandsschock – ein unterschätztes Phänomen
Die Forschung kennt dieses Phänomen als „Ruhestandsschock“: Der plötzliche Wegfall von Aufgaben, Routinen und sozialer Interaktion kann zu Desorientierung, Vereinsamung und depressiven Symptomen führen. Besonders gefährdet sind Menschen, die sich stark über ihre berufliche Rolle definiert haben – etwa leitende Angestellte, Selbstständige oder Personen mit hohem Verantwortungsbewusstsein.
Für sie ist der Arbeitsplatz nicht nur Mittel zum Zweck, sondern Bühne des Lebens. Wenn sich der Vorhang plötzlich senkt, bleibt oft Leere und auch Einsamkeit zurück. Weiterarbeiten wird dann nicht als Belastung, sondern als Verlängerung eines erfüllten Daseins erlebt – nicht aus Angst vor dem Nichts, sondern aus dem Bedürfnis, weiterhin gebraucht zu werden.
Zwischen Freiwilligkeit und wirtschaftlicher Zwangslage
Doch so sehr der Wunsch nach Weiterarbeit auch vom Ideal der Selbstverwirklichung geprägt sein mag – er ist nicht immer frei. 48?% der Befragten geben an, aus finanziellen Gründen auf Erwerbsarbeit nach Renteneintritt angewiesen zu sein. Besonders betroffen: Frauen.
Hier zeigt sich: Altersarmut bleibt vor allem weiblich. 63?% der befragten Frauen äußern die Sorge, dass ihre Rente nicht zum Leben reichen wird – im Vergleich zu „nur“ 40?% der Männer. Die Gründe sind bekannt, aber gesellschaftlich kaum aufgearbeitet: Teilzeitfallen, Sorgearbeit, unterbrochene Erwerbsbiografien, Gender Pay Gap.
Der Gedanke, dass der Ruhestand die Belohnung für ein arbeitsreiches Leben sei, erweist sich damit für viele Frauen als Illusion. Was für Männer zunehmend zu einer Frage von Sinn wird, bleibt für viele Frauen eine Frage des Überlebens.
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Ein neues Bild vom Alter – oder nur eine neue Last?
Gleichzeitig verändert sich das kulturelle Bild vom Altern. Der Ruhestand als Status des „Nicht-mehr-Gebraucht-Werdens“ wird zunehmend infrage gestellt. Aktivität, Mobilität, Engagement – das Alter soll heute vital und selbstbestimmt sein. Die Idee vom aktiven Altern entspricht nicht nur gesellschaftlichen Leitbildern, sondern auch individuellen Bedürfnissen nach Lebensqualität.
Doch auch hier ist Vorsicht geboten. Denn wenn das Weiterarbeiten zum neuen Ideal stilisiert wird, droht eine moralische Aufladung: Wer nicht (mehr) arbeiten kann oder will, gilt schnell als passiv, rückständig oder gar egoistisch gegenüber der „leistenden Gesellschaft“. Es besteht die Gefahr, dass aus Freiwilligkeit ein unterschwelliger Zwang wird – kulturell befeuert und strukturell verankert.
Zwischen Flexibilität und Verantwortung: Was jetzt nötig ist
Die Daten zeigen deutlich: Menschen wünschen sich mehr Flexibilität beim Übergang in den Ruhestand. 34?% der Befragten nennen dies explizit als Wunsch. Gleitende Modelle statt harter Schnitte, Teilzeitangebote, Projektarbeit oder befristete Verträge im Rentenalter. All das schafft Spielräume – sowohl finanziell als auch emotional.
Hier sind Arbeitgeber und Politik gleichermaßen gefragt. Unternehmen müssen ihre Vorstellung vom „Verfallsdatum“ älterer Beschäftigter hinterfragen – und neue Angebote machen: mit Wertschätzung, individueller Passung und echter Anerkennung. Und die Politik? Sie muss endlich die strukturellen Bedingungen so verändern, dass freiwilliges Arbeiten im Alter nicht aus Zwang -aus Not – entsteht, sondern aus echter Wahlfreiheit.
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Die Stimme der Zukunft – was die Generation Z uns zeigt
Und die Jungen? 17?% der unter 28-Jährigen haben sich „noch keine Gedanken über ihr Rentenalter gemacht“. Das mag auf den ersten Blick naiv wirken, zeigt aber auch, wie weit entfernt die Diskussion für viele noch ist. Zugleich könnte gerade diese Generation jene sein, die mit neuen Lebens- und Arbeitsentwürfen die Debatte entideologisiert.
Nicht mehr arbeiten oder nie ganz aufhören – vielleicht liegt die Wahrheit in flexiblen Modellen, die Biografie statt Kalenderjahre in den Mittelpunkt stellen. Zwischen Pausen, Brüchen, Wiederanfängen – Lebensläufe als offene Systeme.
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Arbeit im Alter – wollen, können, sollen?
Die Diskussion um das Rentenalter wird oft geführt, als ginge es nur um Jahre, Statistiken, Finanzierbarkeit. Aber in Wahrheit geht es um Menschenbilder, Lebensentwürfe, Gerechtigkeit und emotionale Kontinuität.
Wer wirklich eine zukunftsfähige Altersarbeit will, muss diese Faktoren zusammendenken. Denn ob Menschen mit 67, 70 oder 75 arbeiten wollen – oder müssen – ist nicht allein eine Frage des „Ob“, sondern des „Wie“ und „Warum“. Arbeit kann Würde geben. Sie darf aber keine Bedingung für Würde sein.