Es ist 7:30 Uhr. Die U-Bahn ist voll, die Gesichter leer. Menschen in ihren Dreißigern scrollen durch Mails, checken Instagram, sehnen sich nach dem Wochenende. Bei vielen fühlt sich Arbeit wie eine lästige Pflicht an, nicht wie eine Aufgabe, die sie erfüllt.

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Doch es gibt eine Gegenbewegung und sie kommt von einer Gruppe, die in vielen Debatten oft zu kurz kommt: den über 55-Jährigen. Die aktuelle Blue Collar-Studie von KOFA und meinestadt.de beschäftigte sich mit dem Thema und zeigt: Mit dem Alter steigt der Anteil derjenigen, die ihre Arbeit als Berufung empfinden. Während bei den unter 35-Jährigen nur knapp ein Drittel von Berufung spricht, sind es bei den 55- bis 64-Jährigen schon 43 % und bei den 65- bis 74-Jährigen sogar über 54 %.

Was bedeutet „Berufung im Job“ überhaupt?

Berufung ein breiter Begriff steht für mehr als Zufriedenheit oder Spaß bei der Arbeit. Es geht um das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas Sinnvolles zu tun, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Für viele ist das ein ersrebenswertes Ideal, aber noch kein gelebter Alltag. Und genau das macht die Erkenntnis der Studie so spannend: Je älter die Menschen sind, desto eher empfinden sie diesen Sinn.

Zwischen Pflichtgefühl und Perspektivlosigkeit: die Jüngeren

Bei den Jüngeren hingegen sieht das Bild anders aus. Hier dominiert ein eher nüchternes Verhältnis zur Arbeit: Der Job ist Mittel zum Zweck. Miete zahlen, Kredite bedienen, Familie versorgen. Wer jung ist, kämpft oft nicht um Sinn, sondern um Stabilität. Viele dümpeln in unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen herum, kämpfen mit steigenden Lebenshaltungskosten und einem Arbeitsmarkt, der ständig Wandel verspricht, aber immer weniger Sicherheit.

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Berufung? Die kann man sich leisten, wenn man oben angekommen ist – die Karriereleiter erklommen hat. Oder wenn man genug erlebt hat, um zu wissen, was wirklich im Leben zählt.

Warum finden viele erst spät im Leben zur Berufung?

Die Studie liefert keine direkten Erklärungen, aber sie legt Brotkrumen aus. Mit zunehmender Berufserfahrung wachsen Verantwortung, Handlungsspielraum und oft auch Anerkennung. Wer lange im Job ist, kennt die Abläufe, kennt die Menschen, kennt den eigenen Wert.

Berufung entsteht dort, wo man Wirksamkeit erlebt. Und die wächst mit Erfahrung und nicht nur mit steigendem Karrierelevel. Außerdem verschieben sich mit dem Alter die Lebensprioritäten: Status verliert an Relevanz, Sinn gewinnt an Bedeutung.

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Berufung im Job – ein Generationending?

Ja, aber nicht im Sinne eines Defizits. Jüngere Arbeitnehmer wollen Flexibilität, Freizeit, Sicherheit. Das ist kein Zeichen von Desinteresse am Sinn, sondern eine Reaktion auf eine Arbeitswelt, die sie selten mit ihren jungen Eigenheiten willkommen heißt. Die Frage ist also nicht: Warum finden junge Menschen keinen Sinn? Sondern: Warum lassen wir ihn ihnen nicht?

Denn Sinn entsteht nicht automatisch, sondern durch echte Wertschätzung, Mitsprache, Entwicklungsmöglichkeiten. Und durch Arbeit, die als richtigen Beitrag wahrgenommen wird, nicht als Abarbeiten.

Was Unternehmen daraus lernen können

  • Sinn darf keine Altersfrage sein: Auch junge Fachkräfte wünschen sich Bedeutung – sie sind sich dessen nur seltener bewusst. Umso wichtiger ist es, Wege aufzuzeigen und sie dabei zu begleiten.
  • Arbeit muss erlebbar sein: Wenn Tätigkeiten anonym, standardisiert und entkoppelt vom Ergebnis sind, fällt Sinn schwer.
  • „Berufung“ braucht keine Inszenierung: Keine Purpose-Kampagne der Welt ersetzt ein ehrliches und menschliches Miteinander.
  • Fundiertes Know-how: Gerade ältere Beschäftigte fühlen sich oft besonders mit ihrem Job verbunden, schließlich haben sie ihren Beruf über Jahrzehnte hinweg ausgeübt. Ein Potenzial, das viele Unternehmen unterschätzen.

Berufung sollte nicht erst am Ende des Berufslebens spürbar werden. Arbeitgeber sollten Arbeit von Anfang an so gestalten, dass Menschen sich gebraucht fühlen und ihren Sinn finden können.

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