Vor vielen Jahren hatte ich mal einen Kollegen, nennen wir ihn Christian. Ein netter Kerl, gar keine Frage. Zuverlässig, schnell, engagiert – und immer und überall zur Stelle.
- Wenn jemand krank wurde: Christian sprang ein.
- Wenn eine Deadline wackelte: Christian regelte das.
- Wenn ein Kunde unzufrieden war: Christian telefonierte sofort persönlich.
Im Prinzip hätte niemand Grund gehabt, sich über Christian zu beklagen. Doch irgendwann begannen im Team die ersten Augen zu rollen, sobald Christians Name fiel. „Christian wieder“, murmelte jemand genervt, als er sich im Meeting meldete – zum vierten Mal in zehn Minuten. Aber warum eigentlich?
Das Helfer-Syndrom: Selbstlos oder doch eigennützig?
Es gibt sie in fast jedem Büro: Kollegen, die scheinbar selbstlos jede Herausforderung annehmen, ständig einspringen und nie Nein sagen. Das Phänomen nennt sich Helfer-Syndrom. Diese Kollegen wirken erst einmal großzügig und selbstlos – doch hinter ihrem Engagement steckt oft das tiefe Bedürfnis, gebraucht zu werden.
Dabei spielt häufig die eigene Biografie eine Rolle: Wer schon als Kind früh Verantwortung übernehmen musste oder Lob hauptsächlich für Leistung bekam, trägt später oft einen starken Drang in sich, sich über Hilfsbereitschaft Anerkennung zu verschaffen. Helfen wird zur Kompensation – manchmal aber auch zur Kontrolle.
Denn seien wir mal ehrlich: Wer immer alles übernimmt, gibt anderen subtil zu verstehen, dass sie es allein nicht schaffen würden. Hinter der vordergründigen Großzügigkeit steckt dann manchmal ein unausgesprochener Machtanspruch. Christian verhält sich, als ob ohne ihn der Laden zusammenbrechen würde – und genau das ist das Problem. Denn damit vermittelt er seinen Kollegen ständig das Gefühl, ersetzbar und inkompetent zu sein.
Wer ständig „einspringt“, verhindert, dass Kollegen eigene Fähigkeiten zeigen und Verantwortung übernehmen können. Das Team wird zur One-Man-Show, in der einer ständig den Applaus kassiert, während alle anderen Zuschauer bleiben.
Wenn Hilfsbereitschaft zum Problem wird
Das sorgt nicht gerade für gute Stimmung. Tatsächlich entsteht häufig ein Gefühl von Konkurrenz statt Zusammenhalt. Ohne es vielleicht direkt zu merken (oder merken zu wollen), stellt der „Retter“ sich selbst in den Mittelpunkt und wertet die Kompetenz seiner Kollegen ab. Langfristig führt das zu Frust, Passivität und innerem Rückzug im Team. Die Stimmung kippt, Vertrauen geht verloren.
Dabei ist es für Führungskräfte durchaus bequem: Wenn jemand ständig alle Lücken füllt, bleibt das System vermeintlich stabil. Die Wahrheit aber ist: Die eigentlichen Probleme – zu wenige Ressourcen, schlechte Prozesse, unklare Verantwortlichkeiten – werden damit nicht gelöst, sondern kaschiert. Und genau deshalb traut sich oft niemand, etwas zu sagen. Denn Christian meint es doch nur gut, oder?
Was ich mich seit dieser Erfahrung mit Christian frage: Warum fällt es uns so schwer, diese Kollegen offen anzusprechen? Vermutlich, weil wir sie insgeheim doch irgendwie brauchen – oder weil es einfacher ist, die Situation hinzunehmen, statt echte Veränderungen einzuleiten.
Dabei wäre genau das nötig. Führungskräfte müssten aufhören, solche Helden im Büro zu feiern, und stattdessen strukturelle Probleme angehen. Teams sollten den Mut haben, den hilfsbereiten Kollegen auch mal freundlich zu bremsen: „Danke dir, Christian – aber das schaffen wir diesmal allein.“
Und die Helfer selbst? Die könnten lernen, dass ihr Wert nicht darin liegt, ständig gebraucht zu werden. Sondern vielleicht gerade darin, anderen Raum zu geben – und auch mal bewusst einen Schritt zurückzutreten.