Die Idee, dass es für jeden Menschen eine große, wahre Berufung gibt, klingt verlockend. Doch sie setzt uns auch unter Druck. Was, wenn wir unsere Leidenschaft für einen Job nie finden? Oder schlimmer: Was, wenn wir sie gefunden haben und sie uns irgendwann nicht mehr erfüllt? Sind wir dann gescheitert?
Die Wissenschaft hinter der Leidenschaft
Psychologen wie Paul O’Keefe von der Yale University und Carol Dweck von der Stanford University haben erforscht, wie unsere Denkweise unsere Interessen und unsere Zufriedenheit im Job beeinflusst.
Ihre Studien zeigen: Die weit verbreitete Vorstellung, dass jeder Mensch eine vorbestimmte Leidenschaft hat, hat ihre Tücken. Sie suggeriert, dass Interessen unveränderlich sind und man nur das Richtige finden muss. Wer so denkt, neigt dazu, sich auf bereits bestehende Interessen zu fixieren und scheut sich davor, Neues auszuprobieren. Dadurch bleiben berufliche Möglichkeiten ungenutzt, die direkt vor uns liegen. Man verharrt in der Komfortzone.
Wer hingegen offen für neue Erfahrungen bleibt und Herausforderungen als Lernchance begreift, kann Begeisterung auch dort entwickeln, wo er sie nicht erwartet hätte.
Menschen mit einer „Wachstumstheorie“ betrachten Interessen daher als etwas Dynamisches. Sie trauen sich, Neues auszuprobieren, sehen Herausforderungen als Entwicklungsmöglichkeiten und lassen sich von Rückschlägen nicht entmutigen. Scheitern ist für sie Teil des Entwicklungsprozesses. Mit der Zeit kann so eine echte Leidenschaft für eine Tätigkeit entstehen.
Warum die Vorstellung von einer Berufung gefährlich ist
Stell dir vor, du suchst deinen Job wie einen besonderen Bernstein am Ostseestrand. In deiner Vorstellung gibt es nur einen einzigen, der wirklich zu dir passt. Die Wahrscheinlichkeit, ihn zu finden, ist verschwindend gering. Und selbst wenn du ihn findest: Was, wenn er nach einer Weile seinen Glanz verliert? Was, wenn es noch einen schöneren gibt? Wie du siehst, entsteht ein gedanklicher Teufelskreis.
Vielleicht ist es hilfreicher, den Beruf wie einen Garten zu betrachten: Du setzt verschiedene Pflanzen, hegst und pflegst sie, entfernst einige oder setzt neue hinzu. Dein beruflicher Weg ist kein fixes Ziel, sondern ein Raum, den du aktiv mitgestalten kannst.
Wie sich die Freude an der Arbeit entwickeln lässt
Anstatt verzweifelt nach „der“ Leidenschaft zu suchen, könnten wir uns fragen: Wie kann ich mehr Bedeutung in das bringen, was ich bereits tue? Hier einige Ansätze, um die Begeisterung für den eigenen Job neu zu entfachen:
1. Finde Sinn in deiner Arbeit
Nicht jede Tätigkeit muss tief inspirierend sein, aber sie kann einen Zweck erfüllen. Frage dich: Wem hilft meine Arbeit? Welchen Beitrag leiste ich? Studien zeigen, dass Menschen, die einen gesellschaftlichen Nutzen in ihrer Arbeit sehen, zufriedener und motivierter sind.
2. Setze dir neue Ziele
Das Erlernen neuer Fähigkeiten steigert nachweislich die Motivation im Job. Setze dir bewusst kleine und große Ziele, die dich fordern – und belohne dich nach ihrem Erreichen.
3. Pflege dein Umfeld
Menschen mit starken sozialen Netzwerken sind zufriedener und belastbarer. Suche den Austausch mit inspirierenden Kollegen oder finde eine Mentor, der dein Blickfeld erweitert und dich begleitet.
4. Entwickle deine Interessen weiter
Wenn dein Job dich nicht mehr fesselt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass du radikal wechseln musst. Vielleicht hilft es, neue Aufgabenbereiche zu erschließen oder dich in eine andere Richtung weiterzubilden. Sprich mit deinen Vorgesetzten darüber.
5. Kein Vergleich mit anderen
Der ständige Vergleich mit Kollegen oder Freunden wirkt eher demotivierend wirken und erzeugt unrealistische Erwartungen. Jeder Mensch ist einzigartig und jeder berufliche Weg ist einzigartig. Konzentriere dich unbedingt darauf, was für dich persönlich wichtig, richtig und erfüllend ist, anstatt dich von äußeren Maßstäben leiten zu lassen.
Leidenschaft ist keine Konstante
Die Vorstellung, dass wir nur den richtigen Job finden müssen, um für immer glücklich zu sein, ist eine Illusion. Arbeit ist nicht immer Spaß, nicht immer erfüllend. Manchmal nervt sie einfach. Aber sie kann wachsen, sich verändern und mit der richtigen Einstellung mehr Freude bringen.
Vielleicht sollten wir uns weniger fragen, ob wir unsere Leidenschaft gefunden haben, sondern vielmehr: „Wie kann ich lernen, das zu lieben, was ich tue?“