Früher war jemand einfach schwierig oder anstrengend. Heute ist er „toxisch„. Das Wort klingt drastisch – und genau das ist Teil seines Erfolgs. Der Begriff suggeriert: Hier geht es nicht nur um ein bisschen Reibung, sondern um ernsthafte Gefährdung. Um psychisches Gift, das uns krank macht. Was als klinischer Terminus begann, ist längst popkulturelles Schlagwort geworden. Auf TikTok, in Podcasts und Ratgeberartikeln wird „toxisch“ als Etikett für alles verwendet, was uns nervt, stresst oder überfordert. Der Ex ist toxisch. Der Chef ist toxisch. Die Arbeitskultur sowieso.
Doch damit wird das ursprüngliche Konzept verwässert. Denn nicht alles, was unangenehm ist, ist gleich psychologisch destruktiv. Und nicht jede schlechte Laune hat systemische Ursachen.
Was bedeutet „toxisch“ im ursprünglichen Sinn?
In der Psychologie bezeichnet toxisches Verhalten konkrete, zerstörerische Muster: Manipulation, emotionale Erpressung, Kontrolle, Isolation, ständige Kritik und das systematische Untergraben von Selbstwert. Typische Ausprägungen finden sich vor allem in Beziehungen – partnerschaftlich wie beruflich. Die sogenannte „Dunkle Triade“ (Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie) gilt als psychologischer Nährboden für toxische Dynamiken.
Am Arbeitsplatz äußern sich toxische Strukturen durch destruktive Führung, fehlende Kommunikation, Mobbing, Überwachung, Schuldzuweisungen statt Fehlerkultur. Besonders problematisch: Toxisches Verhalten ist ansteckend. Mitarbeitende, die unter toxischen Bedingungen arbeiten, zeigen selbst vermehrt destruktives, unkooperatives Verhalten.
Warum boomt der Begriff gerade jetzt?
Die Gesellschaft ist sensibler geworden für psychische Gesundheit und zwischenmenschliche Dynamiken. Das ist grundsätzlich gut. Gleichzeitig erleben wir einen sogenannten „Concept Creep“ (Nick Haslam): Begriffe aus der klinischen Psychologie schwappen in den Alltag, werden aufgeweicht und überdehnt.
Was früher als „schwieriger Chef“ galt, ist heute ein „toxischer Narzisst“. Wer Kritik äußert, wird schnell als „emotionaler Manipulator“ abgestempelt.
Diese sprachliche Aufrüstung fühlt sich oft befreiend an. Sie gibt Opfern von Übergriffen Worte an die Hand. Aber sie birgt auch Gefahren: Wenn jeder Konflikt als „toxisch“ gilt, verschwimmen die Grenzen zwischen echter psychischer Gewalt und Alltagsstress.
Der Arbeitsplatz als Chemielabor?
In der Tat: Es gibt sie, die echten Giftmischer. Der Abteilungsleiter, der ein Teammitglied öffentlich bloßstellt. Die Kollegin, die Gerüchte streut. Der Kunde, der Druck aufbaut und Respekt vermissen lässt. In toxischen Arbeitsumfeldern herrscht so ein Klima der Angst. Entscheidungen werden aus Unsicherheit getroffen, nicht aus Überzeugung. Innovation bleibt auf der Strecke. Wer sich bedroht fühlt, denkt nicht kreativ, sondern defensiv.
Besonders prekär: Toxizität breitet sich aus wie ein Virus. Wenn eine Führungskraft permanent Druck ausübt, entwickeln Mitarbeitende Abwehrstrategien. Manche ziehen sich zurück, andere werden zynisch oder aggressiv. Die Spirale beginnt.
Und wir? Sind wir nicht manchmal auch Teil des Problems?
Wer die ganze Welt als potenzielle Gefahrenzone sieht, muss sich nicht wundern, wenn der Alltag zur Belastung wird. In der Opferrolle lässt sich gut verweilen, aber sie entlastet uns auch von der Verantwortung für unser eigenes Verhalten. Wer immer nur „toxisch“ ruft, nimmt sich selbst aus der Gleichung.
Selbst sogenannte „toxisch Bewusste“ können destruktiv agieren: durch Schweigen, passiv-aggressives Verhalten oder die dauerhafte Abwertung anderer. Kritik wird dann nicht mehr ausgesprochen, sondern moralisch verbrämt. „Mit dir stimmt was nicht.“ – klingt vielleicht harmlos, ist aber eine kommunikative Abrissbirne.
Was hilft gegen das Alltagsgift?
- Unterscheiden lernen. Nicht alles Unangenehme ist toxisch. Konflikte sind Teil des Lebens – und nicht jeder davon ist ein Trauma.
- Sprache bewusst einsetzen. Wer Begriffe wie „toxisch“ oder „narzisstisch“ benutzt, sollte wissen, was sie bedeuten.
- Selbstreflexion statt Fingerpointing. Bin ich wirklich Opfer oder nur nicht bereit, mich mit Kritik auseinanderzusetzen?
- Kritik üben, ohne zu etikettieren. Sag, was stört, aber mach dein Gegenüber nicht zum Bösewicht.
Nicht jeder ist Giftmischer, aber viele rühren mit. Toxische Dynamiken entstehen oft dort, wo niemand hinschauen, aber alle Recht behalten wollen. Wer sich aus der Opferrolle befreit, übernimmt Verantwortung und wirkt plötzlich ganz schön entgiftend.