Wer heute pünktlich den Stift fallen lässt, gilt als wenig engagiert. Wer aber regelmäßig bis in den Feierabend schuftet, als verlässlich, ehrgeizig, belastbar. Ein Trugschluss, wie sich zeigt. Denn Überstunden sind längst kein Zeichen von Fleiß mehr – sondern ein Risikofaktor. Für die Gesundheit. Für die Leistungsfähigkeit. Und für Unternehmen.
Leisten wir uns kaputt?
Fast jeder hat sie schon gemacht. „Nur noch schnell die Präsentation fertigstellen“, „Ich will den Kollegen nicht hängen lassen“ – Überstunden entstehen im Joballtag beiläufig. Doch sie summieren sich.
Der DGB-Index Gute Arbeit zeigt: Mehr als jede zweite Überstunde in Deutschland bleibt unbezahlt – mit gravierenden Folgen für Gesundheit. Die Auswertung der Jahre 2020 bis 2024 offenbart: Über die Hälfte aller Überstunden in Deutschland wird nicht bezahlt. Für das Jahr 2024 entspricht das einem Arbeitsvolumen von rund 638 Millionen unbezahlten Stunden – ein strukturelles Ungleichgewicht, das vor allem auf Kosten der Beschäftigten geht.
Trotz eines Rückgangs des Gesamtüberstundenvolumens bleibt die Zahl mit rund 1,2 Milliarden Stunden jährlich auf hohem Niveau. Umgerechnet entspricht das der Arbeitszeit von über 750.000 Vollzeitstellen. Eine stille Reserve, die systematisch ausgereizt wird – meist ohne Ausgleich, aber mit spürbaren Nebenwirkungen.
Viele halten das für normal. Es gehört halt irgendwie dazu, sagt man. Dabei ist es Ausdruck einer Arbeitskultur, die Leistung mit Selbstaufgabe verwechselt.
Was sagt die Forschung? Arbeit macht müde – zu viel davon macht krank
Wer regelmäßig die gesetzlichen Höchstarbeitszeiten überschreitet, riskiert nicht nur seine Erholung, sondern auch ernsthafte gesundheitliche Schäden. Eine groß angelegte Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zeigt: Wer mehr als 55 Stunden pro Woche arbeitet, hat ein signifikant höheres Risiko für Schlaganfälle (+35 %) und Herzkrankheiten (+17 %).
Auch psychisch zeigen sich Folgen: Schlafstörungen, Depressionen, Angstzustände und Burnout sind eng mit chronischer Überarbeitung verbunden. Was viele unterschätzen: Der Körper merkt sich jeden überzogenen Tag. Und irgendwann sendet er die Rechnung.
Mythos Produktivität: Wenn mehr nicht besser ist
Die vielleicht größte Illusion in unserer Arbeitswelt: Wer länger arbeitet, schafft mehr. Das Gegenteil ist der Fall – das zeigt nicht nur meine Erfahrung, sondern auch Gespräche mit vielen Menschen. Spätestens nach gut acht Stunden nimmt die Leistungsfähigkeit deutlich ab – bie vielen schon nach sechs. Die Konzentration lässt nach, Fehler schleichen sich ein, kreative Ideen versiegen. Was bleibt, ist Erschöpfung – und Arbeit, die zwar gemacht wurde, aber nicht wirklich gut – effektiv – war.
Besonders dramatisch wird das in Branchen, in denen Fehler schwer wiegen: übermüdete Pflegekräfte. Entwickler, die in der zehnten Überstunde fehlerhaften Code in kritische Systeme schreiben. Und selbst in der Kreativwirtschaft wird der Output irgendwann beliebig – weil ausgebrannte Köpfe keine neuen Ideen mehr haben.
Arbeit braucht Pausen. Und Pausen brauchen Mut. Den Mut, gegen den Dauerstress anzustinken – und die eigene Gesundheit wieder wichtiger zu nehmen als den Projektplan.
Der soziale Druck: Wer länger bleibt, gewinnt an Ansehen?
Nicht selten entsteht der Druck zu Überstunden nicht von oben, sondern aus dem Kollegium. Wer früher geht, macht ja nur Dienst nach Vorschrift – nicht mehr, nicht weniger. Wer länger bleibt, wird hofiert. Besonders in leistungsgetriebenen Branchen – Beratung, Agenturen, Start-ups – ist Präsenz immer noch ein Karrierefaktor. Doch was bleibt davon, wenn die Gesundheit den Stecker zieht?
Hier helfen keine Leitfäden oder Wellness-Seminare, sondern ein Kulturwandel. Einer, der Leistung neu definiert – nicht in Quantität, sondern in Wirkung. Nicht im Durchhalten, sondern im Durchblick.
Warum Unternehmen umdenken müssen
Es ist nicht nur ein individuelles Problem, wenn Menschen zu viel arbeiten. Auch Organisationen zahlen einen hohen Preis für Überstunden – oft, ohne es überhaupt zu merken. Die Folgen: mehr Krankheitstage, schwelende Konflikte im Team, innere Kündigung. Laut dem aktuellen Gallup-Bericht „State of the Global Workplace 2025“ fühlen sich nur 13 % der Beschäftigten in Europa emotional mit ihrem Arbeitgeber verbunden. Deutschland liegt irgendwo dazwischen. Ein Hauptgrund: fehlende Wertschätzung und chronische Überlastung.
Die Menschen sind noch da – physisch. Aber innerlich längst weg. Sie zweifeln an Sinn und Führung, sie fehlen öfter – oder steigen ganz aus.
Firmen, die dauerhaft auf Mehrarbeit setzen, betreiben Raubbau an ihrer Belegschaft. Kurzfristig mag das ein paar Effizienzpunkte bringen. Langfristig verlieren sie das, was sich nicht zurückholen lässt: gesunde, motivierte, loyale Mitarbeitende. Und mit ihnen verschwindet auch das, was gute Arbeit eigentlich ausmacht – Verantwortung, Engagement, Vertrauen.
Führungskräfte stehen hier besonders in der Pflicht
Wer Überstunden als Normalfall hinnimmt oder gar subtil erwartet, schadet nicht nur dem Team, sondern auch der eigenen Vorbildfunktion. Es braucht klare Signale: Wer pünktlich geht, hat seine Arbeit gemacht. Punkt.
Lese-Tipp: Pünktlich Feierabend zu machen, ist kein Zeichen für wenig Engagement im Job
Auch Beschäftigte selbst dürfen mehr Grenzen setzen. Keine Mails nach 20 Uhr. Kein schlechtes Gewissen beim Feierabend. Und die Freiheit, „Nein“ zu sagen.