Ein Meeting, Freitag, kurz nach eins. Die Teamleitung ist vakant. Die Frage, wer die Rolle übernehmen möchte, steht im Raum – und bleibt dort. Keine Hände. Keine Stimme. Nur Stille.
Solche Szenen spielen sich derzeit in unzähligen Unternehmen ab. Nicht nur in hippen Berliner Start-ups, sondern auch im Mittelstand in Baden-Württemberg, in IT-Abteilungen von Versicherern, in städtischen Behörden. Die Nachfrage nach Führung ist da – das Angebot sinkt rapide. Früher galt eine Führungsrolle als sichtbarer Beweis für beruflichen Erfolg. Heute wirkt sie auf viele wie schwerer Rucksack, den niemand freiwillig schultern will.
Der Führungskräftemangel in Zahlen
In vielen Unternehmen zeigt sich inzwischen ein klarer Trend: Führungspositionen wecken immer weniger Interesse – besonders bei jüngeren Beschäftigten. Was früher als logischer nächster Karriereschritt galt, wird heute zunehmend gemieden. Auch auf Karriereplattformen lässt sich beobachten, dass Suchanfragen und Bewerbungen auf Leitungsfunktionen spürbar zurückgehen. Begriffe wie „Manager“, „Leitung“ oder „Head of“ verlieren an Zugkraft – nicht, weil es weniger Bedarf gibt, sondern weil die Rollen unattraktiver geworden sind.
Diese Entwicklung schlägt sich längst nicht nur in Zahlen, sondern auch im Alltag von Unternehmen nieder. In vielen Branchen ist der Führungskräftemangel inzwischen spürbarer als der viel zitierte Fachkräftemangel – nicht nur auf der obersten Ebene, sondern besonders in der mittleren Führungsschicht. Dort, wo operative Verantwortung auf strategische Übersetzung trifft, fehlen die Menschen, die bereit sind, diesen Raum zu füllen.
Und dennoch fehlt es nicht an Karriereambitionen. Die Generation Z legt laut dem LinkedIn-Report „Future of Recruiting 2024“ deutlich mehr Wert auf Aufstiegsmöglichkeiten als andere Generationen – konkret 97 Prozent mehr. Gleichzeitig wünscht sie sich mehr Raum für Kompetenzentwicklung, Sinnorientierung und Flexibilität. Anforderungen, die klassische Führungsstrukturen oft nicht erfüllen.
Die Frage sollte also nicht lauten, warum niemand mehr Chef sein will. Sondern: Was ist aus der Rolle geworden, dass sie von so vielen bewusst gemieden wird?
Der Wille zur Macht? Verblasst
Die Antwort beginnt mit einem Blick in den Führungsalltag. Wer heute eine Führungsposition innehat, sitzt oft zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite die Geschäftsführung mit ihren Zahlen, Wachstumszielen und strategischen Vorgaben. Auf der anderen Seite das Team, die Kollegen – erschöpft und gefrustet von Überstunden, Krisenerfahrungen, Umstrukturierungen. Dazwischen: Führungskräfte, die Erwartungen beider Seiten balancieren müssen, ohne aber merklich eigenständig gestalten zu können.
Für viele ist dieser Spagat mehr als eine neue Herausforderung. Man trägt zwar die Verantwortung für Projekte, doch das Team wird zentral zusammengestellt. Man soll Ziele erreichen, doch die strategischen Rahmenbedingungen dafür stehen längst fest. Der Handlungsspielraum? Eingeschränkt! Man steht in der Pflicht, monatliche Feedbackgespräche zu führen, obwohl es an Zeit und Ressourcen fehlt, um ernsthaft etwas zu verändern. Wer führen will, soll liefern – nicht fragen.
Was früher als Aufstieg galt, wird heute als Ballast wahrgenommen. Die Aufbruchsgeste „Ich übernehme“ ist einer Vermeidung gewichen: „Ich bleibe lieber, wo ich bin.“
Führung als Belastung statt Befähigung
Dass diese Entwicklung kein individuelles Phänomen, sondern ein systemischer Trend ist, zeigt sich auch daran, wie stark sich die Erwartungen an Führung verändert haben. Noch immer basiert die formale Führungslogik auf einem Bild aus dem letzten Jahrhundert: der durchsetzungsstarke, kontrollierende Leader mit Überblick, Souveränität und einem klaren Kompass.
Was viele Unternehmen tatsächlich brauchen, ist etwas anderes: Menschen, die mit Unsicherheit umgehen können. Die zuhören, moderieren, Entscheidungen im Team entwickeln und Konflikte lösen. Doch wer das zu ernst nimmt, riskiert zu scheitern. Nicht fachlich, sondern kulturell. Weil das System ihn oder sie nicht trägt.
Generell sind die Anforderungen an Führung enorm gestiegen. Kündigungen müssen sozialverträglich ausgesprochen, Diversitätsziele eingehalten, Spannungen im Team moderiert, Transformationsprozesse verantwortet werden – all das meist neben dem operativen Tagesgeschäft. Viele der jüngeren Mitarbeitenden erkennen das. Sie beobachten ihre Vorgesetzten, die alten Hasen, spüren deren Überlastung – und ziehen daraus ihre Konsequenz: lieber nicht.
Die Generation Z sagt nicht Nein zu Verantwortung – sondern zu alten Systemen
Ein Missverständnis hält sich dabei hartnäckig: Die Generation Z wolle keine Verantwortung, heißt es oft. Sie sei illoyal, egoistisch, zu sensibel für den Druck. Auch die Faulheits-Floskel wird oft bedient. Doch aus Daten und Gesprächen zeichnet sich ein anderes Bild. Die Mehrheit dieser Generation ist ambitioniert. Sie sucht Entwicklungsmöglichkeiten, Sinn, Gestaltungsspielraum. Nur – sie erwartet diese Dinge nicht mehr exklusiv in Führungsrollen.
Stattdessen wünschen sich viele klar strukturierte Fachkarrieren, in denen sie wirksam werden können, ohne Personalverantwortung zu übernehmen. Sie wollen gestalten, nicht kontrollieren. Einfluss nehmen, ohne sich selbst im System zu verlieren. Die Vorstellung, erst durch Führung eine „echte“ Karriere zu machen, wirkt auf viele anachronistisch – oder wie eine Falle.
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Wenn niemand mehr führen will – was dann?
In vielen Organisationen entstehen inzwischen halbgare Führungsstrukturen. Projektverantwortung wird delegiert, Entscheidungen werden im Kollektiv getroffen, Senior-Mitarbeitende übernehmen faktisch Führungsaufgaben, ohne sie offiziell auszufüllen. Was auf den ersten Blick nach Flexibilität, ja gar moderne Führung, aussieht, ist in Wahrheit oft ein Machtvakuum. Zuständigkeiten verschwimmen, Prozesse stagnieren, Verantwortung bleibt unklar.
Ein Beispiel: In einem Softwareunternehmen koordinierte ein erfahrener Entwickler über Monate hinweg sein Team. Er war Ansprechpartner, moderierte Konflikte, kümmerte sich um neue Mitarbeitende. Als ihm die formale Rolle als Teamlead dann angeboten wurde, lehnte er ab. Die Begründung: „Ich will mich nicht rechtfertigen für Ziele, die ich nicht setzen darf. Und ich will keine Kündigungsgespräche führen, ohne Einfluss auf die Ursachen zu haben.“ Er kündigte wenige Monate später. Mit ihm gingen zwei weitere Mitarbeitende.
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Was aber tun gegen die ansteigende Führungsmüdigkeit?
Die Lösung liegt nicht in Incentives oder kosmetischen Anpassungen. Es braucht ein Umdenken – in der Art, wie Führung verstanden, organisiert, ermöglicht und wieder schmackhaft wird.
Führung muss geteilt werden können, ohne ihre Wirksamkeit zu verlieren. Temporäre Leitungsfunktionen, Co-Leadership-Modelle, projektbezogene Verantwortung: Wer Führung sollte nicht mehr an formale Titel und Hierarchiemodelle koppelt werden, sondern an Fähigkeiten und Situationen.
Gleichzeitig müssen Fachkarrieren strukturell aufgewertet werden. Solange Gehalt, Einfluss und Anerkennung ausschließlich an Führungsverantwortung gebunden sind, bleibt Führung eine Zwangslösung – nicht eine bewusste Entscheidung. Nur wenn sich Karriere auch jenseits von Teamleitung und Personalverantwortung verwirklichen lässt, wird Führung zur Option – nicht zur Pflicht.
Und schließlich braucht es etwas, das in vielen Organisationen immer noch fehlt: systematische Vorbereitung. Wer führen will, muss begleitet werden. Mit Coachings. Mit Reflexionsräumen. Mit der Möglichkeit, Fehler zu machen, ohne den eigenen Aufstieg wieder zu gefährden. Führung ist kein Instinkt. Es ist ein Handwerk, das erlernt werden muss. Und es verdient dieselbe Aufmerksamkeit wie jede andere Schlüsselkompetenz.
Führung neu denken heißt: Strukturen neu bauen
Vielleicht ist es kein Ausdruck von Führungsunwillen, dass so wenige junge Menschen führen wollen. Vielleicht ist es eher ein Aufbegehren gegen ein Arbeits- und Leistungssystem, das ihnen keine überzeugenden Gründe liefert, warum sie es tun sollten.
Führung muss wieder ein Raum sein, in dem Menschen wachsen können. In dem Orientierung möglich ist. Und in dem der eigene Gestaltungswille nicht behindert, sondern gefördert wird. Also: Weg vom Chef. Hin zur Führung.