Es ist das immer gleiche Jammern: „Wir finden keine Leute.“ Personalabteilungen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, Führungskräfte klagen über unbesetzte Stellen, Aufträge verzögern sich. Die Schuld? Natürlich „der Arbeitsmarkt“. Oder die „faule Generation Z“. Oder „die Politik“.
Aber was, wenn das eigentliche Problem ganz woanders liegt? Was, wenn es gar nicht an den Fachkräften per se mangelt, sondern an den Angeboten?
Der Fachkräftemangel ist real, aber auch hausgemacht
Laut der aktuellen ManpowerGroup-Studie „Global Talent Shortage 2025“ sagen 86?% der deutschen Unternehmen, dass sie aktuell Schwierigkeiten haben, qualifizierte Mitarbeitende zu finden. Damit liegt Deutschland auf Platz 1 im weltweiten Vergleich. Selbst in Ländern mit deutlich angespannterer wirtschaftlicher Lage, etwa Kolumbien oder Polen, ist die Lage entspannter.
Und der Trend ist nicht neu: Die Zahl der Unternehmen, die Schwierigkeiten beim Recruiting melden, hat sich seit 2014 mehr als verdoppelt. Damals waren es noch 36 %, heute sind es weltweit 74 %.
Der Mangel betrifft alle Branchen, besonders aber Energie & Versorgung (92 %), IT (89 %), Gesundheitswesen (89 %) und Transport & Logistik (88 %). Auch kleine Unternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitenden sind betroffen, genauso wie Konzerne mit 5.000+ Beschäftigten.
Und was tun die Unternehmen?
Man könnte meinen: In einer solchen Krisenlage würde man alle Hebel in Bewegung setzen. Doch ein Blick auf die Maßnahmen zeigt ein ernüchterndes Bild.
Die häufigsten Antworten:
- 27 % bieten mehr Flexibilität bei Arbeitszeiten
- 23 % investieren in Weiterqualifizierung und Umschulung
- 21 % erhöhen Löhne
- 18 % schalten mehr Werbung für Stellenanzeigen
- 16 % bieten mehr Standortflexibilität (hybrid, remote)
Die Zahlen bedeuten allerdings auch, dass drei Viertel der Unternehmen keine flexiblen Arbeitszeiten anbieten. Und vier von fünf kaum finanzielle Mittel für Umschulungen bereitstellen.
Kurz gesagt: Viele Unternehmen jammern lieber, als sich wirklich zu verändern.
Talente wollen mehr als Geld
Viele Unternehmen glauben noch immer, der War of Talents ließe sich allein mit höheren Gehältern gewinnen. Doch wer so denkt, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Denn Talente heute sind nicht in erster Linie auf der Suche nach mehr Geld, sie suchen nach mehr Sinn, mehr Freiheit, mehr Entwicklung.
Und genau hier liegt der blinde Fleck vieler Arbeitgeber:
- Sie bieten attraktive Gehälter, aber keine attraktiven Bedingungen.
- Sie erwarten Höchstleistung, aber investieren kaum in Weiterentwicklung.
- Sie wollen loyale Mitarbeitende, aber bieten keine echte Teilhabe.
Was Talente heute wirklich wollen, lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Sie wollen arbeiten – aber nicht um jeden Preis.
Und dieser Preis ist hoch, wenn:
- der Arbeitsort starr ist und Remote-Optionen als Risiko statt als Chance gesehen werden,
- Weiterbildung vom guten Willen des Einzelnen abhängt, statt systematisch verankert zu sein,
- Lebensläufe penibel nach Lücken durchforstet werden, statt nach Potenzialen,
- Elternzeit Karrieren bremst, statt Teil von Lebensphasenmodellen zu sein,
- Führungskräfte Hierarchien verteidigen, statt Mitarbeitende zu fördern.
Diese strukturellen Realitätsverweigerungen sind keine Ausnahmen – sie sind Alltag.
Ein Beispiel: Unternehmen geben an, neue Talentpools erschließen zu wollen. Doch nur 14 % setzen laut Studie auf Arbeitnehmerüberlassung, nur 12 % auf globale Talentsuche und gerade einmal 11 % denken über den Verzicht auf akademische Abschlüsse nach.
Der Fachkräftemangel als Spiegel veralteter Strukturen
Was viele Arbeitgeber nicht wahrhaben wollen: Der Fachkräftemangel ist nicht nur ein ökonomisches Problem. Er ist Ausdruck eines kulturellen Stillstands. Unternehmen, die ihre Strukturen nicht hinterfragen, erleben derzeit die Quittung für jahrzehntelanges „Weiter so“.
Sie scheitern nicht, weil es keine Talente gibt, sondern weil sie diese Talente nicht erreichen. Oder schlimmer noch: weil sie sie aktiv ausschließen.
Wer erwartet, dass Menschen sich an veraltete Arbeitsmodelle anpassen, verkennt die Realität. Die Arbeitswelt hat sich längst verändert. Und mit ihr die Erwartungen an Führung, Kommunikation und Zusammenarbeit.
Was jetzt nötig ist: kein HR-Blabla, sondern ein Strategiewechsel
Der Weg aus dem Mangel führt nicht über reine Lippenbekenntnisse, sondern über mutige Entscheidungen:
- Statt nur Stellen zu besetzen, sollten Unternehmen Rollen neu denken.
Was brauchen wir wirklich – an Kompetenzen, nicht an Abschlüssen? - Statt an festen Arbeitszeiten festzuhalten, sollte Arbeit endlich um das Leben herum gestaltet werden. Eine lebensphasenorientierte Personalpolitik nicht nur für Eltern – für alle.
- Statt Weiterbildungen als Kostenfaktor zu sehen, müssen sie als Investition in Zukunftsfähigkeit verstanden werden. Wer nicht ausbildet, zahlt doppelt: in Rekrutierungskosten und in Produktivitätsverlust.
- Statt Prozesse zu verwalten, sollten Führungskräfte Möglichkeiten schaffen. Für Mitgestaltung, für Entwicklung, für Innovation.
Der Fachkräftemangel zeigt, wer bereit ist – und wer nicht
Wenn 86 % der deutschen Unternehmen klagen, sie fänden keine Leute, dann ist das weniger ein Arbeitsmarktproblem als ein Innovationsproblem. Denn die Bedingungen, unter denen Menschen heute arbeiten wollen, sind klar. Wer sie nicht erfüllt, hat keine Talente verdient. Die gute Nachricht: Es gibt sie – die Fachkräfte. Die schlechte: Sie bewerben sich nicht bei Unternehmen, die sich nicht bewegen.