Noch nie war der Krankenstand in Deutschland so hoch wie heute. Im Jahr 2023 waren laut Destatis Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Schnitt 15,1 Arbeitstage krank gemeldet – vier Tage mehr als noch 2021. Parallel dazu ist auch der Anteil der Beschäftigten, die sich krankmelden, auf 6,1 Prozent gestiegen. Das ist der höchste Wert seit fast zwei Jahrzehnten.

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Und: Die tatsächliche Zahl der Krankheitstage dürfte noch höher liegen – denn nur Ausfälle ab dem dritten Tag werden erfasst.

Doch während viele Beschäftigte tatsächlich erkrankt sind, zeigt sich in einer PINKTUM Umfrage unter 1.068 Erwerbstätigen ein anderes Phänomen: Jeder zweite Vorgesetzte hält es für legitim, sich auch ohne medizinische Notwendigkeit krankschreiben zu lassen. Was früher mit Scham oder Rechtfertigungsdruck verbunden war, wird heute zum Ventil – weil es einfach scheint, eine Krankschreibung zu bekommen. Oder weil die Kräfte schlicht nicht mehr reichen.

Zwischen Überforderung und Attest

Laut der Umfrage finden es 39 Prozent der Befragten zumindest vertretbar, sich krankzumelden, obwohl sie arbeitsfähig wären. Besonders auffällig: Jeder zweite Vorgesetzte denkt so. Männer häufiger als Frauen, Führungskräfte häufiger als Mitarbeitende ohne Leitungsverantwortung.

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Der klassische Vorwurf lautet: fehlende Arbeitsmoral. Doch der reflexhafte moralische Zeigefinger geht an der Realität vorbei. In Wahrheit sprechen die Zahlen für eine Arbeitswelt, in der viele Menschen über ihre Belastungsgrenzen hinausgehen – und irgendwann den Notausgang suchen. Ob mit ärztlichem Attest oder ohne.

Erst erschöpft, dann krank

Die Ursachen für diese Entwicklung sind ebenso vielschichtig wie besorgniserregend. 55 Prozent der Befragten sagen, sie seien heute erschöpfter als noch vor drei Jahren. Frauen trifft es stärker als Männer. Das subjektive Energielevel sinkt – gleichzeitig steigen die Erwartungen an Selbststeuerung, ständige Erreichbarkeit und psychische Widerstandsfähigkeit.

Was früher die Ausnahme war, ist heute Alltag: Jeder Dritte lässt sich schneller krankschreiben als früher – auch bei leichten Beschwerden. Nicht weil Arbeitnehmende weniger leisten wollen, sondern weil sie dauerhaft mehr leisten, als sie können – und weil es so einfach ist.

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Der heimliche Ausstieg

Die Studie zeigt: Wer nicht wirklich krank ist, kommt anscheinend trotzdem an ein Attest. 45 Prozent der Befragten sagen, es sei „einfach“, eine Krankschreibung zu bekommen – selbst wenn die Beschwerden eher diffus sind. 21 Prozent gehen im Zweifel einfach zum nächsten Arzt. Homeoffice senkt zudem die Hemmschwelle: 47 Prozent nutzen die neue Flexibilität, um leichter krankzumachen.

Gleichzeitig zeigen andere Zahlen, dass viele Menschen das Gegenteil tun: Sie schleppen sich krank zur Arbeit. 59 Prozent geben an, auch mit Symptomen weiterzuarbeiten – aus Pflichtgefühl oder Angst vor Konsequenzen. Die Grenze zwischen Einsatz und Selbstausbeutung ist längst durchlässig geworden.

Führungskräfte im Dauerstress

Besonders brisant: Gerade Führungskräfte melden sich auffällig oft krank – obwohl sie nicht zwingend arbeitsunfähig zu sein scheinen. 50 Prozent finden das sogar akzeptabel. Und das, obwohl sie laut Studie nicht zu den erschöpftesten Gruppen zählen. Was ist da los?

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Ein Grund liegt wohl im mittleren Management: viel Verantwortung, wenig Einfluss, kaum Entlastung. Während Unternehmen längst in die Resilienz der Belegschaft investieren, bleibt die Führungsebene dazwischen häufig sich selbst überlassen – mit Druck von oben und Erwartungen von unten. Der Rückzug ins Blaumachen wirkt da weniger wie ein Verstoß – sondern eher wie ein Notausgang.

Wirtschaftliche Schäden, strukturelle Ursachen

Was als individuelles Verhalten erscheint, hat längst gesamtwirtschaftliche Dimensionen erreicht. Im Jahr 2023 wurden laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in Deutschland 886,2 Millionen Krankheitstage registriert. Die daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Schäden sind gewaltig: Produktionsausfälle in Höhe von 128 Milliarden Euro.

Damit zählen krankheitsbedingte Fehlzeiten zu den teuersten Risikofaktoren im deutschen Arbeitsmarkt. Und das ist nur die rechnerische Seite. Hinzu kommen schwer quantifizierbare Folgekosten: Produktivitätseinbußen in Teams, Know-how-Verluste, Belastung der verbleibenden Mitarbeitenden und eine fragile Unternehmenskultur, in der das Fehlen längst nicht mehr nur ein logistisches, sondern ein soziales Problem ist.

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Was Unternehmen jetzt tun müssen

Es reicht nicht, den hohen Krankenstand nur zu registrieren. Unternehmen müssen beginnen, ihn zu verstehen. Dazu gehört, die Krankschreibung nicht länger als individuellen Ausfall zu deuten – sondern als Indikator für strukturelle Überforderung der Belegschaft.

Praktische Ansatzpunkte wären:

  • Gesundheit darf kein individueller Kraftakt mehr sein: In vielen Organisationen wird Gesundheit noch als Privatsache behandelt – als Frage des Lebensstils oder der Resilienz. Dabei ist sie längst systemrelevant. Wer gesunde Teams will, muss auch Strukturen schaffen, die nicht chronisch überfordern: realistische Projektrahmen, klar geregelte Erreichbarkeit, keine Heroisierung des Durchhaltens.
  • Das mittlere Management braucht Schutz – nicht noch mehr Druck: Es ist der Hotspot in vielen Unternehmen: viel Verantwortung, begrenzter Einfluss. Wer hier nicht entlastet, riskiert Führungsausfall auf Raten. Führung muss wieder gestaltbar sein – nicht nur durchsetzbar.
  • Vertrauen beginnt immer mit der eigenen Haltung: Viele Unternehmen schreiben Vertrauen in ihre Leitbilder, schauen aber argwöhnisch auf jede Abwesenheit. Eine gesunde Kultur erkennt an, dass Menschen Pausen brauchen. Nicht jede Auszeit ist Missbrauch. Aber jede Misstrauenskultur ist eine Einladung zum Rückzug.
  • Wer kein Feedbackgespräch führt, bekommt Krankheit als Antwort: Was Mitarbeitende umtreibt, erkennen viele Unternehmen erst, wenn es zu spät ist. Krankmeldungen ersetzen dann die Gespräche, die vorher hätten stattfinden müssen. Rückmeldungen sind kein Störsignal – sie sind ein Frühwarnsystem.

Der stille Hilferuf – So geht es nicht weiter

Wenn sich Beschäftigte – ob Mitarbeitende oder Führungskräfte – krankmelden, ohne es zu sein, steckt dahinter selten Bequemlichkeit. Viel häufiger ist es ein stiller Hilferuf: gegen Überforderung, gegen Dauerverfügbarkeit, gegen eine Arbeitskultur, die keine Luft zum atmen lässt. Es ist vielmehr ein Signal: So geht es nicht weiter.

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Was sagt es über unsere Arbeitskultur aus, wenn Menschen sich krankmelden müssen, um gesund zu bleiben?

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