Einst war es das Nonplusultra vieler Karrieren, sich den Chefsessel zu sichern – heute gähnen bei der Stellenbesetzung für Teamleitungen und Führungsrollen leere Ränge. Was steckt hinter dieser Führungsmüdigkeit? Und warum ist es oft so viel anstrengender, Chef oder Chefin zu sein, als es von außen aussieht?
Der Hype um das „Chefsein“ bröckelt
Diese Entwicklung überrascht, weil sie den Karrierevorstellungen vieler früherer Generationen völlig widerspricht. Führung bedeutete schließlich Einfluss, mehr Gehalt und den symbolträchtigen Eckbüroschlüssel.
Heute jedoch zeigt sich eine gegenläufige Dynamik: Viele potenzielle Führungskräfte möchten keine Führungsverantwortung übernehmen – obwohl sie dafür qualifiziert wären. Noch auffälliger ist, dass viele Mitarbeitende mit wachsender Erfahrung bewusst ohne Führungsambitionen vorankommen wollen. Ein häufiger Grund ist die Belastung, die Führungsrollen oft mit sich bringen.
„Es waren die langen Tage, die vielen Überstunden – und es war die Einsamkeit“, erzählt mir eine ehemalige Teamleiterin, die deshalb zurück ins operative Geschäft gewechselt ist. „Man hat kaum noch wirklich Feierabend und ist immer irgendwie auf Standby. Das wurde einfach zu viel.“
Geschlechtsspezifische Unterschiede in Karrierewünschen und Führungsambitionen
Eine interessante Studie mit 467 Studierenden zeigt außerdem, dass es auch deutliche Unterschiede in den Führungsambitionen und Karrierewünschen von Frauen und Männern gibt.
Demnach schätzen weibliche Teilnehmerinnen ihre Führungskompetenzen geringer ein als ihre männlichen Kommilitonen und sehen es als weniger wahrscheinlich an, Führungsrollen zu erreichen – was auf eine Diskriminierungserwartung hinweisen könnte. Zudem zeigten Frauen weniger Interesse an Spitzenpositionen im Management und assoziierten diese weniger stark mit positiven Eigenschaften als die männlichen Teilnehmer.
Diese Unterschiede in der Wahrnehmung und den Ambitionen zeigen, wie stark persönliche Erwartungen die Karrierewege prägen. Frauen messen in der Studie Familie und Gesundheit einen hohen Stellenwert bei, während Männer eher ein hohes Gehalt und berufliche Anerkennung priorisieren.
Deutlich wird hierbei, dass nicht nur die Führungskultur, sondern auch die individuellen Lebensentwürfe eine Rolle spielen. So scheint es oft weniger am Interesse an Führungspositionen per se zu mangeln als vielmehr an der Bereitschaft, die eigene Lebensqualität und -vorstellung zugunsten einer Leitungsposition aufzugeben.
Führung – mehr Last als Lust
Der Wunsch, Verantwortung zu übernehmen und etwas zu bewegen, wird schnell von den Arbeitsbedingungen überschattet, die viele in Führungspositionen täglich erleben: hoher Leistungsdruck, mangelnde Anerkennung und kaum Spielraum, tatsächlich tiefgreifenden Einfluss zu nehmen. Die Freiräume, die man sich als Führungskraft erhofft, verschwinden im Büroalltag oft zwischen unzähligen Reportings und Kontrollaufgaben. Echte Führung bleibt da auf der Strecke.
Hinzu kommt, dass viele Arbeitgeber ihre Führungskräfte schlichtweg allein lassen, wenn es um z. B. die Lösung komplexer Personalprobleme oder Konflikte im Team geht – getreu dem Motto: „Wofür bezahle ich sie?„
Viele Führungskräfte beklagen die mangelnde Unterstützung durch ihre direkten Vorgesetzten und die obere Führungsebene als große Hindernisse an. Häufig fehlen klare Leitlinien, die ihnen Rückhalt bieten könnten – alles Punkte, die zunehmend entmutigen.
Hinzu kommt die Sorge, durch den Wunsch nach flexibleren Arbeitsmodellen Karriereeinbußen hinnehmen zu müssen. Diese Ängste bremsen die Einführung flexibler Führungsstrukturen erheblich – ein Dilemma, das die Bereitschaft, Führungsverantwortung zu übernehmen, weiter sinken lässt.
Auch der Fachkräftemangel setzt viele Führungskräfte unter einen immer stärkeren Druck, an allen Ecken und Enden als Feuerwehr zu agieren. Ihre Rolle ist dann keine der Gestaltung, sondern des Notmanagements. Sich für das Team stark zu machen, wird umso schwieriger, je weniger Personal, Budget und Zeit zur Verfügung stehen – ein Wirkungskreis, die allzu häufig zermürbt.
Aufstieg, der sich kaum auszahlt
Ein Grund, warum viele den Schritt in die Führungsriege scheuen, ist das wachsende Bewusstsein für die eigene Work-Life-Balance. Gerade in Zeiten, in denen Menschen mehr Wert auf ihre psychische Gesundheit und Lebensqualität legen, kollidiert das klassische Bild der Führungskraft zunehmend mit modernen Vorstellungen eines erfüllten Lebens. Mehr Verantwortung bedeutet meist deutlich mehr Arbeit, ohne dass sich dies „spürbar“ auf das Gehalt auswirkt – ja, es gibt Ausnahmen. Was sind da schon ein paar Hundert Euro mehr? Eine klassische Führungsposition bedeutet schließlich Vollkontakt – und die 40-Stunden-Woche ist da meistens kaum zu halten.
Zudem zeigen diverse Analysen, dass der finanzielle Aufstieg oft nur marginal ist, wenn man den steigenden Verantwortungs- und Zeitaufwand in Relation setzt.
Die Entscheidung, sich nicht für eine Führungsrolle zu bewerben, ist damit auch eine Entscheidung für ein besseres Verhältnis zwischen Arbeits- und Privatleben.
Die neue Karriere ohne Führungstitel
Eine der spannendsten Entwicklungen unserer Zeit: Karriere und Anerkennung funktionieren zunehmend auch ohne Hierarchiestufen. Dank agiler Arbeitsmethoden und flacher Organisationsstrukturen entwickeln sich auch neue Karrierewege, die sich jenseits von Führungspositionen definieren. Fachlaufbahnen oder Projektrollen bieten vielen Experten die Möglichkeit, sich zu entfalten und Anerkennung zu finden, ohne die formale Verantwortung eines Teamleiters oder Abteilungschefs übernehmen zu müssen.
„Viele Menschen leisten Hervorragendes in ihrem Fachgebiet, sind aber nicht für Führungsrollen gemacht. Auch sie sollten die Möglichkeit haben, ohne Titel einen wertvollen Beitrag zu leisten – und dafür die gleiche Wertschätzung zu erfahren“, meint Karriere- und Leadership-Expertin Anne Borrmann.
Immer mehr Unternehmen erkennen, dass nicht jeder Mitarbeiter mit Führungsverantwortung wirklich glücklicher wird – und schaffen Rollen, die Einfluss und Fachlichkeit kombinieren, aber keine formale Führung erfordern.
Willst du Chef werden? Hier sind 5 Fragen, die du dir stellen solltest
Für all jene, die darüber nachdenken, den Weg zur Führungskraft einzuschlagen, ist es klug, genau zu überlegen, ob die Rolle wirklich das Richtige ist. Hier sind einige Fragen, die dir helfen können, deine Entscheidung zu reflektieren:
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Bin ich bereit, meine Work-Life-Balance zu verändern? Führungsrollen fordern mehr Zeit und Energie, als man im Vorfeld erwartet.
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Will ich tatsächlich mehr Verantwortung für das Team oder reizt mich eher das Gehalt? Geld und Status allein sind selten ein tragfähiges Fundament für eine erfüllende Karriere.
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Bin ich gut darin, Konflikte zu lösen und zwischen verschiedenen Interessen zu vermitteln? Führungskräfte müssen nicht nur steuern, sondern auch vermitteln – ein Aspekt, der vielen erst in der Praxis bewusst wird. Der wichtigste Punkt.
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Kann ich auch mit Rückschlägen und Kritik umgehen? Wer führt, hat das VIP-Ticket, wenn etwas nicht funktioniert, und muss Verantwortung übernehmen – auch wenn das Problem nicht hausgemacht ist.
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Bin ich bereit, für das Team zu kämpfen, selbst wenn der Erfolg auf sich warten lässt? Gute Führung bedeutet, sich für die Belange des Teams einzusetzen, auch wenn Ergebnisse auf sich warten lassen.
Die Zukunft der Führung: Flexibler, kooperativer, besser
Es ist klar, dass sich die Führungskultur ändern muss, wenn gerade die jüngeren Generationen für Leitungsrollen gewonnen werden sollen. Unternehmen müssen Führungskräfte stärker unterstützen und die Arbeit verteilen, anstatt alle Verantwortung bei Einzelpersonen zu bündeln. Zukünftige Leadership-Modelle könnten viel flexibler und kooperativer sein, etwa durch Shared Leadership oder temporäre Führungsrollen, die sich an Projekten orientieren.
Am Ende bleibt die Entscheidung, eine Führungsrolle zu übernehmen, individuell. Doch die Botschaft ist deutlich:
Nicht jede Karriere muss an die Spitze führen – und das Streben nach Einfluss und Anerkennung kann heute ebenso gut neben dem Chefsessel stattfinden.
Die klassische Hierarchie ist im Umbruch, und das könnte langfristig allen Mitarbeitenden zugutekommen, die in ihrem Job ihren Weg zur Erfüllung suchen, ohne ihre eigene Work-Life-Balance aufzugeben.