Du klappst nach einem produktiven Arbeitstag den Laptop zu, schulterst deine Tasche, ein knappes „Schönen Feierabend!“ in die Runde – und willst gerade zur Tür raus, da kommt der Spruch von hinten: „Na, halbtags heute?“ Und plötzlich ist er da, dieser kurze Stich. Als hätte man was falsch gemacht, nur weil man pünktlich geht.

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Lesetipp: Nein, pünktlich Feierabend zu machen, ist kein Zeichen für wenig Engagement im Job

Mehr Arbeitszeit ist nicht mehr Leistung

Acht Stunden sind doch was für Berufseinsteiger, richtig produktiv wird’s erst ab elf. Hauptsache, die Statusleiste im Projekttool leuchtet grün. Das Problem: Diese Logik klingt nach Leistungsdenken der 90er oder sogar nach Industriezeitalter, ist aber reine Selbsttäuschung und Selbstausbeutung.

Eine Studie des IZA-Instituts räumt mit dem Mythos des Dauer-Deliverns auf. Über 18 Monate beobachteten Forschende dort rund 330 Beschäftigte in einem Callcenter. Jede Minute, jeder Anruf, jeder Feierabend wurde dokumentiert. Das Ergebnis: Eine Stunde länger im Büro führte im Schnitt nur zu 0,9 Prozent mehr Output – also rund zehn Prozent weniger Effizienz pro Stunde.

Mit jeder zusätzlichen Stunde stieg außerdem die sogenannte „Average Handling Time“, also die durchschnittliche Bearbeitungsdauer pro Kunde. Heißt: Wer länger sitzt, arbeitet langsamer. Müdigkeit, Ablenkung, Konzentrationsschwäche – alles Faktoren, die die Produktivität schrittweise torpedieren. Besonders stark trifft es Berufseinsteigende. Sie wollen sich beweisen, ackern länger, verbrennen dabei aber schneller. Wer keine Grenzen zieht, riskiert, schon früh auf dem Zahnfleisch zu kriechen.

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Und trotzdem: Pünktlich gehen bleibt verdächtig

In der unausgesprochenen Hierarchie vieler Firmen gilt man erst dann als Leistungsträger, wenn man spätabends noch Mails tippt. In vielen Unternehmen demonstriert man durch pure Anwesenheit, dass man quasi unentbehrlich ist. Überstunden sind dort weniger Zeichen von Engagement als von Chaos – schlechten Prozessen, unklaren Prioritäten oder falschem Ehrgeiz.

Lese-Tipp: Die besten Mitarbeiter kommen spät und gehen früh

Wer ständig länger bleibt, hat meist nicht mehr zu tun, sondern schlicht weniger Struktur. Oft steckt auch ein psychologischer Mechanismus dahinter: Statt wegen guter Leistung gelobt zu werden, hoffen viele auf Anerkennung über Dauerpräsenz. Lieber Erschöpfung mit Schulterklopfen als effiziente Routine mit Ruhepuls.

Wenn Dauerpräsenz krank macht

Dass ständige Überstunden nicht nur unproduktiv, sondern auch gesundheitlich riskant sind, ist längst belegt. Eine Studie mit über 140.000 Teilnehmenden aus einer französischen Studie zeigt: Wer regelmäßig an mehr als 50 Tagen im Jahr über zehn Stunden arbeitet und das über einen Zeitraum von zehn Jahren oder länger, hat ein um 45 Prozent erhöhtes Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden. Hinzu kommen häufig Schlafmangel, Gereiztheit, Fehler – die Spirale dreht sich weiter.

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Meist läuft es doch so: Je erschöpfter du bist, desto ineffektiver wirst du. Um das zu kompensieren, bleibst du noch länger. Das Ergebnis: Du brauchst mehr Zeit für dieselben Aufgaben. Wäre eine Pause nicht klüger?

Produktivität hat ein Zeitfenster

Aus meiner Erfahrung weiß ich: Nach sechs Stunden konzentrierter Arbeit nimmt der Energielevel spürbar ab. Der Output sinkt, die Fehlerquote steigt. Kein Mensch kann dauerhaft auf sehr hohem Level performen. Das ist schlicht Wunschdenken einiger Arbeitgeber und Selbstausbeuter. Und warum auch? Ein Mitarbeiter, der seine Zeit am Arbeitsplatz fokussiert, motiviert und vollem Einsatz nutzt – und danach bewusst pünktlich Schluss macht, um sich Familie, Hobbys oder der eigenen Erholung zu widmen, ist das Idealbild eines Mitarbeiters.

Genau solche Mitarbeitenden wissen, wie sie ihre Ressourcen einsetzen müssen, um auch am nächsten Tag wieder mit klarem Kopf und voller Kraft zu arbeiten. Und genau das ist High Performance.

Niemand hat etwas gegen eine Extra-Meile – wenn sie die Ausnahme bleibt

Niemand hat etwas dagegen, in Ausnahmesituationen mal die Extra-Meile zu gehen. Problematisch wird es erst, wenn Überstunden zur Normalität und pünktlicher Feierabend zur Provokation wird. Das hat mit einer fragwürdigen Unternehmenskultur zu tun – nicht mit fehlender Motivation. Und genau da wird’s für Unternehmen gefährlich: Kündigt ein High Performer, folgen oft zwei weitere Kollegen.

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Arbeit ist schlicht ein Tauschgeschäft. Zeit gegen Geld. Arbeitgeber müssen dafür sorgen, dass Aufgaben in dieser Zeit machbar sind; Mitarbeitende sollten in dieser Zeit liefern. Fertig. Und wenn dir das nächste Mal jemand hinterherruft „Halbtagsjob oder was?“, dann sag ruhig: „Oder einfach effizient. Zwinker.“ Vielleicht wirkt’s – und wenn nicht, dann hattest du immerhin einen pünktlichen Feierabend.

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Hinweis in eigener Sache:  Du fühlst dich im Job frustriert und brauchst einen klaren Plan für deinen Neustart? In unserem Guide „Die Exit-Strategie“ erfährst du, wie du deinen Absprung sicher meisterst – von der Kündigung bis zur Jobsuche. Hier geht’s zum Guide!
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