Man sieht sie in Hochglanzbroschüren moderner Arbeitgeber, in Keynotes über „High Performance Teams“ oder in Social-Media-Posts, die so klingen, als hätte jemand das Leben mit dem Quartalsziel verwechselt: Mitarbeitende, die acht, neun oder zehn Stunden am Tag konzentriert, motiviert und unermüdlich Leistung bringen – und das mit Leichtigkeit, Leidenschaft und stets einem Lächeln auf den Lippen. Der 100-Prozent-Mitarbeiter ist zum Symbol einer Arbeitswelt geworden, die Effizienz mit Identität verwechselt und Produktivität zum Maß aller Dinge macht.

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Doch so anziehend dieses Idealbild auf manche Arbeitgeber auch wirkt – es ist und bleibt eine Illusion. Und diese Illusion fordert ihren Preis.

Eine systematische Produktivitätsfiktion

Die Erwartung, dass ein Mensch acht Stunden täglich geistige Höchstleistungen vollbringt, ist nicht neu. Sie stammt aus der Arbeitslogik der industriellen Revolution. Die 40-Stunden-Woche war damals ein wichtiger Fortschritt gegen Ausbeutung, wurde aber im Zeitalter der Wissensarbeit nie ernsthaft hinterfragt. Stattdessen übertragen wir das lineare und standardisierte Fabrikmodell unverändert in unsere Büros und Homeoffices. Doch hier arbeiten keine Maschinen, sondern Köpfe – und die funktionieren nicht konstant, sondern zyklisch.

Unser Gehirn ist neurobiologisch gesehen nicht auf Dauerbelastung ausgelegt. Es arbeitet in Wellen, braucht regelmäßige Pausen und Phasen der Erholung, um langfristig kreativ und produktiv zu bleiben. Selbst Weltklasse-Musiker und Schachspieler, so betont der Forscher Anders Ericsson, konzentrieren sich kaum länger als vier Stunden täglich. Warum also erwarten wir von Angestellten in Marketing, IT oder Projektteams, dass sie dauerhaft doppelt so lange Spitzenleistungen erbringen, ohne mental auszubrennen?

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Der Preis der Selbstoptimierung

Die heutige Arbeitswelt betont stets Selbstverantwortung. Wer nicht dauerhaft performt, habe eben nicht die richtige Morgenroutine, das falsche Mindset oder nutze noch nicht die richtige App. Gleichzeitig steigen die Anforderungen unaufhörlich: Projekte sollen am besten gestern fertig sein, E-Mails instant beantwortet und Präsentationen permanent optimiert werden. Wer um Punkt 17 Uhr Feierabend macht, gilt fast schon als Low Performer.

Doch Studien zeigen seit Jahren, dass nur ein geringer Teil der Beschäftigten wirklich hoch engagiert sind. Ein Großteil macht Dienst nach Vorschrift. Die Diskrepanz zwischen propagierter Hochleistung und tatsächlicher Motivation ist enorm – und dennoch selten Thema öffentlicher Debatten. Außer es wird von ganz oben gefordert, effizienter und vor allem mehr zu arbeiten.

Und auch Unternehmen bemühen gerne Schlagwörter wie Purpose, Agilität und Selbstwirksamkeit, als ließen sich strukturelle Probleme mit schicken Buzzwords lösen. Währenddessen stapeln sich die Termine weiter, Notifications blinken ununterbrochen, und niemand traut sich, auf Pause zu drücken.

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Wer profitiert von diesem Leistungsmythos?

Der 100-Prozent-Mitarbeiter dient als Benchmark in Vorstellungsgesprächen, Feedback-Runden und Beförderungen. Wer motiviert wirkt, gilt als belastbar; wer präsent ist, als engagiert. Doch genau dadurch werden Sichtbarkeit mit Substanz und Aktivismus mit echter Wirkung verwechselt.

Auch wirtschaftlich betrachtet lebt die Geschäftswelt von dieser Illusion. Solange Menschen versuchen, einem biologisch unmöglichen Ideal zu entsprechen, lassen sie sich gut steuern – mit Boni, Optimierungstools und Motivationsphrasen. Wer dagegen anerkennt, dass Leistung natürlichen Schwankungen unterliegt, beginnt automatisch, grundlegende Fragen zu stellen: zur Sinnhaftigkeit heutiger Arbeitszeitmodelle, zur Qualität der Führungskultur und zum Stellenwert von Pausen.

Leistung braucht bewusste Grenzen

Arbeit sollte kein Selbstzweck sein, sondern ein Mittel zum Zweck. Wer Pausen macht, sollte sich nicht rechtfertigen müssen. Wer nicht dauerhaft lächelt, ist nicht automatisch unmotiviert. Der Mythos der Dauerleistung schafft keine Effizienz, sondern Erschöpfung – individuell und kollektiv.

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Organisationen, in denen Pausen gar argwöhnisch beäugt werden, erzeugen keine Spitzenleistungen, sondern Angst. Angst, nicht auszureichen oder den Anschluss im Team zu verlieren. Genau diese Angst zerstört das, was Unternehmen heute dringend benötigen: Neugier, Initiative und Kreativität.

Was Unternehmen brauchen, sind keine neuen Optimierungs-Hacks, sondern Strukturen, die den Menschen hinter der Leistung ernst nehmen. Produktivität ist zyklisch und kennt Phasen der Aktivität ebenso wie Zeiten der Erholung und Reflexion. Unternehmen, die das nicht erkennen, produzieren keine High Performer, sondern langfristig Ausfälle.

Dass Mitarbeitende eben keine Maschinen sind, zeigt auch eine Umfrage des britischen Anbieters vouchercloud unter knapp 2.000 Büroangestellten: Demnach arbeiten Beschäftigte lediglich 2 Stunden und 53 Minuten täglich wirklich produktiv. Die restliche Zeit nutzen sie für Social Media, Small Talk oder sogar die Jobsuche. Rund 79 Prozent gaben sogar offen zu, nicht dauerhaft produktiv zu sein – 65 Prozent erklärten sogar, ohne diese kleinen Auszeiten gar nicht durch den Tag zu kommen.

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Diese Zahlen entlarven den Dauerleistungs-Mythos. Menschen brauchen Luft zum Atmen, Pausen zum Denken. Und sind wir mal ehrlich: Es sind oft die fünf oder zehn ruhigen Minuten, die den entscheidenden Gedanken bringen.

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