Hast du dich schon mal gefragt, warum manche Führungskräfte mit Egoismus, Dominanzgehabe oder sogar Einschüchterungstaktiken durchkommen – und trotzdem als kompetent, ja sogar als „Leader“ gelten? Während einige Angestellte bei solchen Persönlichkeiten die Flucht ergreifen, sehen andere in ihnen effektive Entscheider. Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch wirkt, folgt in einem psychologischen Muster:
Unsere Beurteilung von Führung hängt stärker von unserer eigenen Weltanschauung ab, als vielen bewusst ist.
Die „Competitive Worldview“: Wie dein Weltbild dein Chefbild prägt
Ob wir einen dominanten Vorgesetzten als toxisch oder als durchsetzungsstark empfinden, hängt stark davon ab, wie wir die soziale Welt grundsätzlich sehen. Menschen mit einer sogenannten Competitive Worldview (CWV) – also der Überzeugung, dass das Leben ein Dschungel, in dem nur die Stärksten überleben – nehmen antagonistische Verhaltensweisen ganz anders wahr als jene, die an Kooperation und gegenseitige Unterstützung glauben.
In einer Reihe von sieben Studien mit über 2.000 Teilnehmenden konnten US-Forscher zeigen: Je stärker eine Person davon überzeugt ist, dass man sich im Leben durchsetzen muss, desto eher interpretiert sie rücksichtslose Führung als Zeichen von Kompetenz und Effektivität.
Umgekehrt gilt: Wer an eine grundsätzlich faire und wohlwollende Gesellschaft glaubt, bewertet dasselbe Verhalten tendenziell als problematisch oder destruktiv. Antagonismus ist also nicht per se ein Zeichen von Stärke – sondern eine Projektionsfläche, auf die wir unsere eigene Sicht auf die Welt legen.
Sieben Studien, ein Muster: Warum Antagonisten als effektiv gelten – aber nur für manche
Die Forschungsreihe, veröffentlicht in der renommierten PsycInfo-Datenbank (2025), nutzte Online-Umfragen mit verschiedenen Versuchsanordnungen, um herauszufinden, wie Menschen antagonistische Führungspersonen einschätzen – je nachdem, wie sie die Welt sehen. Das Ergebnis war bemerkenswert konsistent: Teilnehmende mit hoher CWV beurteilten die Kompetenz und Führungseffektivität konfrontativer Personen deutlich positiver als solche mit niedriger CWV.
Die Forscher gingen noch einen Schritt weiter. Sie untersuchten nicht nur, wie Menschen aktives Verhalten bewerten, sondern auch, wie rückblickend über den Aufstieg erfolgreicher Führungskräfte geurteilt wird. Prominente Beispiele wie Tim Cook (Apple) oder Mary Barra (GM) wurden von Personen mit starker Wettbewerbsorientierung tendenziell als „hart, aber erfolgreich“ eingeschätzt – selbst ohne klare Belege für ein aggressives Verhalten in deren Karriereverlauf. Es ist ein klassischer Fall von kognitiver Verzerrung: Wer glaubt, dass Erfolg ohne Härte unmöglich ist, schreibt erfolgreichen Karrieren automatisch antagonistische Züge zu.
Toxische Toleranz: Wenn Mitarbeiter Härte nicht nur dulden, sondern erwarten
Das wohl brisanteste Ergebnis der Studienreihe: Menschen mit hoher CWV sind nicht nur toleranter gegenüber antagonistischen Führungskräften – sie funktionieren unter ihnen oft sogar besser. Sie berichten von höherer Motivation, größerer Arbeitszufriedenheit und geringerer Kündigungsabsicht, selbst wenn der Chef oder die Chefin sich konfrontativ, abwertend oder kontrollierend verhält.
Das bedeutet nicht, dass sie solche Führungspersönlichkeiten mögen. Aber sie nehmen deren Verhalten als „notwendig“ oder sogar „angemessen“ wahr, weil es ihrer Überzeugung entspricht, dass Erfolg eben ein harter, oft kompromissloser Weg ist. Das paradoxe daran: In bestimmten Unternehmenskulturen, etwa in stark wettbewerbsorientierten Branchen wie Investmentbanking, Vertrieb oder Tech-Start-ups, können destruktive Führungsstile nicht nur überleben, sondern regelrecht belohnt werden.
Wer wird befördert – und warum?
Wenn Antagonismus je nach Weltbild unterschiedlich bewertet wird, stellt sich eine Frage: Welche Persönlichkeiten schaffen es in Führung und wer entscheidet darüber? Die Studien legen nahe, dass Personalverantwortliche mit hoher CWV dazu neigen, durchsetzungsstarke, dominante und sogar manipulative Kandidaten positiv zu bewerten. Sie sehen in solchen Eigenschaften Führungsstärke, statt Warnsignale. Umgekehrt neigen Entscheider mit kooperativer Grundhaltung dazu, dieselben Personen kritisch zu sehen – als Risiko für das Team oder die Kultur.
Die Folgen für Organisationen sind erheblich: Wenn bei Auswahlprozessen – bewusst oder unbewusst – die Weltanschauung der Entscheider mitwirkt, entstehen Filterblasen. In Unternehmen mit stark kompetitiver Ausrichtung werden aggressive Aufsteiger nicht nur toleriert, sondern systematisch gefördert. Das hat Rückwirkungen auf alle Ebenen: auf Werte, Kommunikation, psychologische Sicherheit – und auf die Fluktuation im Team.
Dein Blick auf die Welt entscheidet mit – ob du willst oder nicht
Ob du einen fordernden Vorgesetzten als kompetent oder als toxisch empfindest, hat womöglich weniger mit ihm zu tun als mit dir selbst. Mit deinen Erfahrungen, deinen Prägungen – und deiner inneren Landkarte davon, wie die Welt funktioniert. Wer glaubt, dass nur die Stärksten überleben, akzeptiert Härte als Preis für Erfolg. Wer an Kooperation glaubt, erwartet auch von Führung Menschlichkeit, Empathie und Integrität.
Diese Erkenntnis regt zum Nachdenken an. Denn sie bedeutet: Unser Urteil ist formbar. Wenn wir reflektieren, wie wir über Macht, Führung und Erfolg denken, verändern wir auch, wen wir in solche Rollen lassen. Die Linse, durch die du andere beurteilst, kannst du nicht einfach ablegen – aber du kannst lernen, durch eine andere oder anders hindurchzusehen.