Wer morgens um 6 Uhr Regale einräumt, Pflegebedürftige versorgt oder Firmentore öffnet, hält den Alltag am Laufen – wird in politischen Debatten aber kaum gehört. Dabei sind es genau diese Menschen, die das Rückgrat unserer Gesellschaft bilden. Genau sie stehen im Fokus einer neuen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die das Bild der deutschen Erwerbsbevölkerung neu zeichnet.
Die neue Arbeiterklasse: Wer dazugehört – und warum das kaum jemand so sagt
Die FES-Studie stützt sich auf über 5.000 Interviews sowie Fokusgruppen mit Erwerbstätigen aus Produktion, Dienstleistung, Verwaltung, sozialen Berufen und Selbstständigkeit. Fast die Hälfte der Befragten – 49 Prozent – ordnet sich selbst der Arbeiterklasse zu. Besonders stark vertreten: Menschen aus der industriellen Produktion (83 %) und aus Dienstleistungsberufen wie Verkauf, Gastronomie, Pflege oder Logistik (70 %). Aber auch Bürokräfte (49 %), technische (Semi-)Expert:innen (52 %) und Kleingewerbetreibende (46 %) empfinden sich als Teil dieser Schicht.
Bemerkenswert ist: Viele, die sich als „Arbeiterklasse“ sehen, identifizieren sich gleichzeitig mit der sogenannten Mitte. Die Begriffe sind nicht mehr trennscharf. Die alte Vorstellung vom Arbeiter mit Blaumann hat ausgedient – heute ist es die Erzieherin, der Paketfahrer oder die alleinerziehende Pflegehelferin. „Man arbeitet, um Mitte zu sein“, fasst die Studie das neue Selbstbild zusammen. Die Mittelschicht steht symbolisch für Sicherheit, Anerkennung, Respekt. Wer dazugehört, gehört vermeintlich nicht zu den Verlierern.
Arbeitsbedingungen: Belastet, systemrelevant, wenig gehört
Die Realität dieser „arbeitenden Mitte“ ist häufig durch schwierige Bedingungen geprägt. Die neue Arbeiterklasse arbeitet unter Druck – mental wie körperlich. Vor allem Dienstleistende und soziale Berufe berichten von ständiger Überforderung: 31 Prozent der Dienstleistenden und 36 Prozent der soziokulturellen (Semi-)Expert:innen geben an, regelmäßig an die Grenzen ihrer mentalen Belastbarkeit zu stoßen. Bei der körperlichen Belastung liegen Dienstleistende (34 %) sogar noch vor Produktionsarbeitenden (28 %).
Viele dieser Berufe wurden in der Pandemie öffentlich gefeiert. Doch diese symbolische Aufwertung blieb folgenlos. „Geklatscht wurde viel – passiert ist nichts“. Viele kämpfen weiter mit prekären Arbeitsbedingungen. Geregelte Arbeitszeiten, faire Löhne oder echte Entwicklungsperspektiven fehlen. Dazu gesellen sich Schichten, Zeitdruck, Wochenendeinsätze und teils eine geringe gesellschaftliche Wertschätzung.
Und dennoch: 85 Prozent der Befragten sind stolz auf ihre Arbeit. Besonders Kleingewerbetreibende, Soloselbstständige und Dienstleistende sind stolz auf das, was sie leisten – und das trotz oft widriger Bedingungen. Doch die Diskrepanz zwischen persönlicher Leistung und öffentlicher Anerkennung ist groß: Jede dritte Person aus diesen Gruppen gibt an, nicht genug Respekt für ihre Arbeit zu bekommen.
Kein „Wir“ mehr: Klasse ohne Klassenbewusstsein
Die Studie offenbart auch: Es gibt eine klar identifizierbare Erwerbsgruppe mit ähnlichen Lebensrealitäten, aber in dem Sinne kein gemeinsames Klassenbewusstsein. Nur 18 Prozent der Befragten sind Mitglied einer Gewerkschaft. Die historische Selbstverständlichkeit, sich kollektiv zu organisieren, ist verloren gegangen. Die Gründe: Vereinzelung, mangelnde Sichtbarkeit, fehlende politische Repräsentanz.
Dabei existieren gemeinsame Interessen: mehr finanzielle Sicherheit, bezahlbarer Wohnraum, sichere Renten, faire Löhne. In den Fokusgruppen äußerten viele die Sehnsucht nach einer politischen Kraft, die ihre Themen ehrlich vertritt. Doch die Enttäuschung sitzt tief: „Wer arm geboren wird, stirbt auch arm – wahrscheinlich“, so die nüchterne Einschätzung eines Eisenbahnelektronikers aus Sachsen.
Die Politik – fern und fremd
Ein weiterer Punkt der Studie: Die politische Klasse wird als abgehoben empfunden. Politiker gelten als entrückt, realitätsfern, mit den Lebensumständen der „arbeitenden Mitte“ nicht mehr vertraut. Der Eindruck: Statt um soziale Fragen kümmere sich die Politik lieber um Nebenschauplätze. „Die Krötenwanderung ist wichtiger“, bringt es eine Lagermitarbeiterin auf den Punkt.
Diese Wahrnehmung geht einher mit ökonomischem Druck. Besonders in Dienstleistungsberufen ist das finanzielle Polster dünn. Nur 44 Prozent der Dienstleistenden und 45 Prozent der Kleingewerbetreibenden können am Monatsende Geld zurücklegen. Jeder sechste Haushalt aus diesen Gruppen muss auf Ersparnisse oder Kredite zurückgreifen. Die finanzielle Unsicherheit bestimmt den Alltag – selbst bei Vollzeitbeschäftigung.
Viel Empathie, wenig Solidarität
Interessanterweise zeigt die neue Arbeiterklasse ein starkes Maß an Empathie – sowohl für Schwächere (z. B. Alleinerziehende, Rentner:innen) als auch für jene „oben“ (z. B. Ärzt:innen, Akademiker:innen). Das Verständnis kippt allerdings, wenn Gerechtigkeitserwartungen verletzt werden: etwa wenn Bürgergeldempfänger:innen mehr Unterstützung erhalten als arbeitende Mütter.
Es geht nicht um Neid – sondern um das Gefühl, ein Stück weit ungerecht behandelt zu werden. Viele erleben es so, dass ihre Arbeit zwar gebraucht, aber nicht entsprechend geachtet wird – all das hinterlässt Spuren. Diese Erfahrung ist keinesfalls neu, aber sie hat heute eine neue Dringlichkeit.
Die Mitte als Mythos – und als Maske
Die Studie zeigt deutlich: Die meisten Menschen sehen sich als „Mitte“ – auch wenn objektiv vieles dagegen spricht. Die mittleren und unteren Einkommensgruppen verorten sich selbst mehrheitlich nicht unten, sondern in der Mitte. Dabei ist dieser Begriff inzwischen vor allem eines: Projektionsfläche. Die „Mitte“ verspricht Zugehörigkeit, aber sie kaschiert auch soziale Abstiegsängste.
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In den Fokusgruppen dominierte das Bild einer gesellschaftlichen Pyramide: viele unten, wenige oben. Trotzdem wollen sich die meisten nicht als Teil der Unterschicht sehen – selbst wenn sie kaum finanziellen Spielraum haben. Die Arbeiterklasse ist sichtbar – aber sie trägt den Mantel der Mitte, um sich Respekt zu sichern.
Warum das alles wichtig ist
Wer heute zur Arbeiterklasse gehört, entscheidet sich nicht mehr an Maschinen oder Gewerkschaftsbüros. Es geht um das Gefühl, gebraucht zu werden – aber nicht genügend gehört zu werden. Um das Wissen, hart zu arbeiten – und trotzdem wenig zurückzubekommen. Um das Erleben von Relevanz – ohne die entsprechende Anerkennung. Dieses Spannungsfeld ist ein politisches Vakuum.
Für die Politik bedeutet das: Wer „die Mitte“ adressieren will, darf nicht nur an Fachkräfte, Eigentümer:innen oder Akademiker:innen denken. Die echte Mitte ist oft Arbeiterklasse. Und sie ist entpolitisiert, weil sie zu oft ignoriert wurde.
Fühlst du dich als Teil der Arbeiterklasse?
Vielleicht nicht im klassischen Sinne. Vielleicht nennst du es „arbeitende Mitte“. Aber vielleicht merkst du auch: Du stehst jeden Tag früh auf. Du sorgst. Du funktionierst. Du stemmst den Alltag. Und doch fehlt dir die Zeit, das Geld, die Stimme.
Vielleicht ist es Zeit, die Arbeiterklasse nicht nur zu erkennen – sondern ihr wieder eine Stimme zu geben.