„Deutschland muss wieder mehr arbeiten – mehr leisten“ – so lautet das neue Mantra, das durch Politik, Talkshows und Kommentarspalten hallt. Gemeint ist: mehr Malochen, weniger Freizeit. Feiertage gelten plötzlich als volkswirtschaftlicher Luxus. Erholung als Standortnachteil. Wer innehält, steht angeblich dem Fortschritt im Weg. Aber was wie wirtschaftliche Vernunft klingt, ist in Wahrheit zu kurz gedacht – und psychologisch brandgefährlich.
Denn es sind nicht zu viele Feiertage, die den Arbeitsmarkt belasten. Es sind die Arbeitsbedingungen selbst. Die ständige Verdichtung der Jobs. Die fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Überlastung im Gesundheitssystem. Die zunehmenden psychischen Erkrankungen.
Psychische Erkrankungen verursachen seit Jahren die meisten Fehltage in deutschen Unternehmen. Laut DAK-Psychreport 2025 fielen im Jahr 2024 je 100 Beschäftigte 342 Tage aufgrund psychischer Diagnosen aus. Besonders betroffen: soziale Berufe. In Kitas lagen die Ausfallzahlen mit 586 Tagen, in der Altenpflege mit 573 Tagen pro 100 Beschäftigte bis zu 71 Prozent über dem Branchendurchschnitt.
Depressionen allein führten zu 183 Fehltagen je 100 Beschäftigte – erneut der Spitzenwert. Einen Anstieg zum Vorjahr gab es nicht, doch das Niveau bleibt dramatisch hoch. Und auch auf betriebswirtschaftlicher Ebene greift die Forderung nach „mehr Leistung“ zu kurz.
Unternehmen verlassen Deutschland nicht, weil die Belegschaft zu wenig arbeitet – sondern weil die Rahmenbedingungen sie dazu zwingen.
Hohe Energiepreise, überbordende Bürokratie, lähmende Steuerlast – das ist der Stoff, der Investitionen erstickt. Das ist der Grund, warum Mittelständler Richtung Osteuropa, USA oder Asien abwandern. Mehr Arbeitsstunden pro Kopf ändern daran rein gar nichts.
Im Gegenteil: Wer in einem dysfunktionalen System einfach nur länger durchhält, riskiert mehr Schaden als Nutzen – für sich, für die Gesundheit, für den Arbeitsmarkt. Und wer glaubt, man müsse einfach zwei, drei Feiertage streichen, dann werde die Wirtschaft schon wieder anspringen – der macht es sich nicht nur zu einfach. Er denkt gefährlich naiv.
Krank durch Dauerstress: Was die Zahlen sagen
Die drei häufigsten Gründe für Krankschreibungen im Jahr 2024 waren laut Techniker Krankenkasse klassische Belastungssymptome eines überforderten Arbeitssystems: Erkältungskrankheiten (4,67 Fehltage je Erwerbsperson), psychische Erkrankungen (3,75 Tage) und Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems (2,71 Tage). Zwar gab es gegenüber dem Vorjahr leichte Rückgänge, doch das Niveau bleibt hoch – und die Reihenfolge spricht Bände.
Gerade psychische und körperliche Erschöpfung zählen damit zu den häufigsten Krankschreibungsgründen – obwohl oder gerade weil die Arbeitswelt zunehmend verdichtet ist. Das zeigt: Es sind nicht mangelnde Motivation oder „fehlendes Arbeitsmoralbewusstsein“, die zu hohen Ausfällen führen – sondern strukturelle Überlastung.
Was wirklich fehlt: Würde, Sinn und Planbarkeit
Im Zentrum der Debatte steht eine absurde Umkehrung: Nicht das System muss den Menschen dienen, sondern der Mensch dem System. Als wären Erschöpfung und Überarbeitung kein Beweis für Fehler – sondern ein Zeichen von „mangelnder Leistungsbereitschaft“.
Arbeiten ja – aber bitte ohne Begeisterung. Das ist das neue Normal in Deutschlands Büros, Werkshallen und Pflegeeinrichtungen. 78 Prozent der Beschäftigten machen laut Gallup Engagement Index 2024 nur noch Dienst nach Vorschrift. Die emotionale Bindung an den Arbeitsplatz ist auf einem historischen Tiefstand: Nur noch neun Prozent fühlen sich wirklich verbunden mit dem, was sie tun. Ein Signal, das nicht ignoriert werden kann.
Was einst als Tugend galt, ist heute oft bloß ein Schutzmechanismus. Die Gründe? Mangel an Wertschätzung, fehlende Perspektiven, Misstrauen gegenüber Führung – und ein Arbeitsalltag, der zunehmend entkoppelt ist von Sinn, Einfluss und Gestaltungsspielraum. Der Anteil der „innerlich Gekündigten“ ist zwar leicht gesunken, doch das ist kein Erfolg – es ist ein Zeichen von Resignation. Immer mehr Menschen funktionieren nur noch, statt sich zu engagieren.
Das hat Folgen: Wer sich nicht mehr verbunden fühlt, arbeitet nicht schlechter – aber auch nicht besser. Innovation, Verantwortung, Loyalität? Fehlanzeige. Und während Politik und Wirtschaft über Produktivität klagen, breitet sich ein Problem aus, das mit Überstunden nicht zu lösen ist: Die emotionale Entfremdung der Arbeitnehmenden von ihrer Arbeit.
Wer ausbrennt, hilft niemandem – auch nicht dem BIP
Die Vorstellung, man könne ein strukturelles Problem mit individueller Selbstaufopferung lösen, ist gefährlich – und letztlich wirtschaftlich kontraproduktiv. Das zeigt auch ein Blick auf internationale Vergleiche:
Länder wie die Niederlande, Dänemark oder Schweden setzen teils auf mehr Feiertage und kürzere Arbeitszeiten – und liegen bei Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit oft vor Deutschland. Der Grund: Wer ausgeruht und motiviert zur Arbeit kommt, leistet nicht nur mehr, sondern bleibt auch länger gesund und engagiert im Job. Das zahlt sich für Unternehmen und Volkswirtschaften gleichermaßen aus.
Denn: Wer dauerhaft über seine Grenzen geht, fällt nicht nur früher aus – sondern verliert auch das Vertrauen in ein System, das seine Bedürfnisse ignoriert. Die Folge: innere Kündigung, Frühverrentung, Fachkräfteverlust. Und eine Abwärtsspirale, die sich nicht durch einen gestrichenen Feiertag umkehren lässt.
Was wäre, wenn wir nicht mehr arbeiten – sondern besser?
Man kann natürlich so tun, als sei „mehr arbeiten“ die einfachste Lösung. Als würde sich mit ein paar weniger Feiertagen der Fachkräftemangel beheben und die Wirtschaft erholen.
Aber das ist Wunschdenken. Wir leben nicht in einer Zeit der Faulheit – wir leben in einer Zeit der Erschöpfung.Vielleicht braucht dieses Land nicht weniger Freizeit – sondern mehr Sinn, mehr Vertrauen, mehr Struktur. Vielleicht liegt der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit nicht in der Opferbereitschaft der Beschäftigten – sondern im Mut zur Reform an den richtigen Stellen.
Oder anders gefragt: Wie viele Feiertage darf sich ein System streichen, bevor die Menschen streiken – mit den Füßen, im Kopf oder mit dem Attest?