Es ist 19:38 Uhr. Das Büro ist fast leer, bis auf zwei Menschen: Der eine sitzt mit Tunnelblick vor der Excel-Tabelle, der andere nippt an seinem dritten Kaffee und tut so, als wäre das noch produktiv. Beide werden am nächsten Tag für ihren „Einsatz“ gelobt. Warum eigentlich?
In vielen Unternehmen gilt es noch immer als Leistungssignal, möglichst spät das Büro zu verlassen. Wer Überstunden macht, zeigt Einsatz. Wer regelmäßig vor dem Chef geht, muss sich dagegen beäugen lassen. Als wäre Arbeitszeit eine Art olympische Disziplin, bei der es Gold für die längste Anwesenheit gibt. Doch diese Denke ist nicht nur überholt – sie ist gefährlich.
Warum Zeit kein valider Leistungsmaßstab mehr ist
Lange Zeit war die Bewertung relativ einfach: Wer lange arbeitete, leistete viel. Punkt. Im Industriezeitalter war das sogar korrekt. Wer acht Stunden am Fließband stand, produzierte mehr als jemand, der nur sechs Stunden dort war. Leistung war sichtbar, quantifizierbar und in Stunden messbar.
Doch die Arbeitswelt hat sich verändert: Heute zählen nicht mehr Schrauben pro Stunde, sondern Ideen, Entscheidungen, Strategien. Der Output moderner Wissensarbeit ist nicht linear zur Arbeitszeit – manchmal entsteht die beste Lösung in zehn konzentrierten Minuten, manchmal nach zwei Tagen des Herumdenkens. Und manchmal gar nicht, obwohl man bis Mitternacht durchgearbeitet hat und der Kopf qualmt.
Dass dennoch so viele Unternehmen und Führungskräfte an der Zeituhr festhalten, ist ein paradoxer Anachronismus. Der Grund? Kontrolle. Sichtbarkeit. Gewohnheit. Und ein tief sitzender Irrglaube: Wer viel Zeit in seine Arbeit investiert, muss als Mitarbeitender auch viel wert sein.
Präsenz statt Performance – ein weit verbreiteter Irrtum
In vielen Firmen hat sich eine Kultur etabliert: Wer sichtbar ist, ist Leistungsträger. Sichtbar heißt in diesem Fall: früh da, spät weg, erreichbar am Wochenende, schnell auf Mails antworten – am besten mit Zeitstempel nach 22 Uhr. Klar, in manchen Branchen mag Verfügbarkeit zu ungewöhnlichen Zeiten erforderlich sein – aber sie darf nicht zum allgemeinen Leistungsmaßstab werden.
Dabei sagt keine dieser Verhaltensweisen irgendetwas über die tatsächliche Leistung aus. Sie zeigen höchstens, dass jemand bereit ist, seine Gesundheit oder sein Privatleben für die Arbeit zu opfern. Oder – noch brisanter – dass Prozesse, Prioritäten oder Führung versagen.
Denn wer regelmäßig über seine Arbeitszeit hinaus arbeiten muss, macht nicht automatisch mehr oder bessere Arbeit. Im Gegenteil. Vielleicht ist der Workload schlicht unrealistisch. Vielleicht mangelt es an klarer Aufgabenverteilung. Vielleicht an Priorisierung. Oder schlicht am Vertrauen in die Kompetenz der Führungsriege.
Und dennoch wird Überzeit oft gleichgesetzt mit „sich reinhängen“. Das Resultat: Diejenigen, die ihre Arbeit effizient und fokussiert erledigen – und dann pünktlich den Laptop zuklappen – stehen im Schatten der Dauerpräsenten oder bekommen noch Extra-Arbeit aufgebrummt.
Schon gewusst: Mehr als jede zweite Überstunde bleibt unvergütet. Die Auswertung des DGB der Jahre 2020 bis 2024 zeigt: Über die Hälfte aller Überstunden in Deutschland wird nicht bezahlt. Im Jahr 2024 allein summiert sich das auf rund 638 Millionen unbezahlte Stunden – ein strukturelles Ungleichgewicht, das auf Kosten der Beschäftigten geht. Trotz eines leichten Rückgangs bleibt das Überstundenvolumen hoch: Jährlich rund 1,2 Milliarden Stunden – das entspricht der Arbeitszeit von über 750.000 Vollzeitstellen.
Der Preis des Zeitwahns: Was auf der Strecke bleibt
Die Folgen dieser Denkweise sind gravierend – für einzelne Mitarbeitende wie für Unternehmen. Wer ständig länger bleibt, signalisiert: Ich schaffe es nicht in der vorgesehenen Zeit. Das kann am System liegen – oder an der eigenen Effizienz. Doch diese Differenzierung findet selten statt.
Stattdessen entsteht ein toxisches Belohnungssystem. Die, die länger bleiben, gelten als fleißig. Die, die effizient sind, als faul. Die Konsequenz: Burnout-Raten steigen, Talente wandern ab, Mittelmaß wird zur Norm – weil sich niemand mehr traut, Grenzen zu setzen oder Leistung an Ergebnissen zu messen.
Noch fataler: Die Innovationsfähigkeit leidet. Denn kreative Lösungen brauchen Pausen, Abstand, Reflexion. Wer ständig im Hamsterrad läuft, sieht nicht mehr über den Tellerrand. Wer nie pünktlich oder routiniert Feierabend macht, hat keinen Raum mehr für neue Perspektiven.
Was stattdessen zählt: Wirkung, nicht Minuten
Leistung im 21. Jahrhundert lässt sich nicht in Stunden messen. Sondern in Wirkung. In Entscheidungen, die Probleme lösen. In Ideen, die Kunden begeistern. In Lösungen, die Prozesse verbessern. Die Frage sollte also vielmehr lauten: Was hast du bewegt? Nicht: Wie lange warst du da?
Natürlich braucht es dafür neue Formen der Zusammenarbeit – Zielvereinbarungen, Vertrauen, Feedback-Kultur. Aber vor allem braucht es den Mut, alte Denkmuster zu ständig hinterfragen. Den Mut, die Uhr aus dem Zentrum der Leistungsmessung zu nehmen. Und den Fokus auf das zu legen, was wirklich zählt: Ergebnisse.
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Was wir ändern sollten – und warum es sich lohnt
Wer sein Unternehmen zukunftsfähig machen will, muss anfangen, Leistung neu zu denken. Nicht mehr in purer Anwesenheit, sondern in Wirkung. Nicht mehr in Zeiterfassung, sondern in Zielerreichung. Dafür braucht es natürlich den Willen zum Kulturwandel – weg vom Präsentismus, hin zu echter Performance.
Dieser Wandel beginnt bei jedem Einzelnen:
- Indem wir auch uns selbst hinterfragen: Bleibe ich länger, weil ich muss – oder weil ich will, dass man es sieht und mir Pluspunkte bei einer möglichen Beförderung bringt?
- Indem Führungskräfte bewusst mit gutem Beispiel vorangehen und den pünktlichen Feierabend nicht als Leistungsverweigerung, sondern als Zeichen von Effektivität und gesunder Work-Life-Balance vorleben.
- Indem Teams offen über Leistung und Effizienz sprechen – und Zeitaufwand dabei nur ein Nebenaspekt ist, nicht die Währung.
Wer als Führungskraft oder Unternehmer Zeit als Hauptindikator für Leistung nutzt, misst das Falsche. Heute zählen Wissen, Kommunikation und Kreativität – Zeit ist da höchstens ein Rahmen, aber kein Beweis für Leistung.