Unternehmen verzweifeln aufgrund der Personalnot. Fachkräften stehen damit aktuell alle Türen offen. Sie nutzen sie aber nicht, um einzutreten. Denn potenzielle Jobkandidaten unterschätzen sich. Wie kommt das?

Anzeige

Das Prinzip „Angebot und Nachfrage“ funktioniert in der Regel ganz gut. Nur in der Arbeitswelt kommt dieses Prinzip gerade nicht richtig an: Während es viele offene Stellen gibt, und auch einige Fachkräfte, die sich bewerben könnten, tun sie es nicht. Posten bleiben unbesetzt. Denn so einige qualifizierte Arbeitnehmer sehen sich nicht in der Position, sich für einen Job zu bewerben, der ihnen beispielsweise noch mehr Geld oder mehr Verantwortung einbringt.

Warum schicken Fachkräfte keine Bewerbung ab?

Viele Arbeitgeber ziehen jetzt alle Register, um an Personal zu kommen. Einige Beispiele:

Anzeige
  • Sie erhöhen die Löhne.
  • Sie locken Fachkräfte mit attraktiven Zusatzleistungen.
  • Sie flexibilisieren die Arbeitszeiten.
  • Sie führen Homeoffice ein.
  • Sie machen Gelder für Weiterbildungen locker.
  • Sie bieten familienfreundliche Benefits an.

Und doch ziehen potenzielle Bewerber es vor, es gar nicht erst zu versuchen. Das zeigt eine Stepstone-Untersuchung. Den Ergebnissen nach unterschätzen Fachkräfte ihre eigenen Chancen. Das dürfte angesichts der vorherrschenden Situation überraschen.

Sie schätzen ihren Wert und ihre Attraktivität für den Arbeitsmarkt niedrig ein. Viel zu niedrig, wenn diese in Relation zu der Einschätzung der Arbeitgeber gesetzt wird.

Einer der wichtigsten Gründe hierfür wäre, dass Beschäftigte zu wenig Kenntnisse über den eigenen Marktwert hätten, wenn sie zum Beispiel Berufseinsteiger seien oder weniger Arbeitserfahrung als andere Kollegen nachweisen könnten. Manchmal – etwa in sozialen Berufen – wäre die Selbsteinschätzung so pessimistisch, weil Fachkräfte in diesem Bereich oft weniger als 30.000 Euro jährlich verdienen. Selbstzweifel sind vorprogrammiert.

Wie können Arbeitgeber entgegensteuern?

Auch wenn Unternehmen und Regierung bereits fleißig dabei sind, Konzepte zu entwickeln, um Fachkräfte aufzunehmen und zu binden: Alles nützt nichts, wenn die Selbstzweifel dieser Menschen nicht ausreichend beseitigt werden. Fachkräfte könnten sich aus ihren aktuellen Stellen heraus bewerben, für die sie momentan überqualifiziert sind. Aus Angst, nicht gut genug für eine bestimmte Position zu sein, trauen sich das aber nur wenige zu.

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache als die Selbstzweifel der potenziellen Bewerber: Menschen in der Pflege verdienten 2021 laut den Daten des Statistischen Bundesamtes (Destatis) über 30 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Und sie können es sich erlauben, nach höheren Positionen, mehr Verantwortung und besser bezahlten Jobs zu fragen.

Die Frage ist deshalb nicht, ob ihre Kompetenzen und Arbeitserfahrungen genügen – sondern, wie sie den Mut finden, ihre bisher „sichere“ Zone zu verlassen. Zwar sind Fachkräfte in erster Linie selbst verantwortlich dafür, den Glauben an die eigene Berufsstärke und Kompetenz zu fördern.

Aber auch Unternehmen haben Einfluss:

1. Einladende Stellenbeschreibung:

Arbeitgeber können sich noch nicht ausruhen, wenn sie Firmenfitness, frische Getränke oder Obstkörbe anbieten. Schon in den Stellenbeschreibungen sollte deutlich werden, dass etwa qualifizierte Bewerber mit Lücken im Lebenslauf ebenfalls willkommen sind.

Anzeige

2. Begegnung auf Augenhöhe:

Bereits zu Beginn des Fachkräftemangels hat sich abgezeichnet, dass Arbeitgeber sich bei ihren Jobkandidaten bewerben müssen – nicht umgekehrt. Jobkandidaten sollten deshalb ermutigt werden, eigene Ansprüche und Bedingungen zu kommunizieren. Es sollte kein Tabu sein, Forderungen zu stellen.

3. Gemeinsames Lernen:

Eigene Ansprüche seitens der Unternehmen sollten auf ein realistisches Maß heruntergeschraubt und stattdessen durch eine Arbeitskultur ersetzt, die zum Lernen und Weiterbilden einlädt sowie Fehler erlaubt. Kein Bewerber sollte das Gefühl haben, trotz Qualifikation nicht zu genügen oder in Selbstzweifel versinken zu müssen.

4. Keine voreiligen Entschlüsse:

Der Werdegang eines Bewerbers ist eher „untypisch“, aber die Qualifikation ist vorhanden? Zahlen auf dem Papier und Jahre der Berufserfahrung haben zwar eine Aussagekraft. Dennoch sollten Personalverantwortliche nicht mit Scheuklappen arbeiten: Wer Potenziale erkennen will, muss flexibler werden. Voreilige Schlüsse und Vorurteile gehören deshalb der Vergangenheit an.

Wichtig: Vor allem ist es in der heutigen Arbeitswelt nicht mehr ungewöhnlich, mehrmals den Job zu wechseln. Im Gegenteil. In manchen Branchen ist es sogar von Vorteil, seine Kenntnisse und Erfahrungen dynamisch zu erweitern, indem Jobs gewechselt werden. Ein häufiger Arbeitsplatzwechsel muss deshalb noch nichts heißen.

Anzeige

5. Versprechen halten

Wer ein attraktives Arbeitsumfeld verspricht, sollte dieses unter Beweis stellen. Dazu gehört heute ein wertschätzender Umgang mit Bewerbern und Angestellten. Wenn dieses in Aussicht gestellt wird, sollten Unternehmen dafür sorgen, ihre Versprechen auf allen Ebenen zu erfüllen. So zeigen Arbeitgeber, dass ihnen das Wohlergehen der Arbeitenden wichtig ist – und diese einen hohen Stellenwert genießen. Gleichzeitig stärken sie Beschäftigte in ihrer Position und laden dazu ein, Unsicherheiten abzulegen.

Schon gewusst?

Während einige Menschen ihre eigene Kompetenz und ihre Attraktivität für Arbeitgeber schlichtweg unterschätzen, sitzt das Problem bei anderen besonders tief. Die Betroffenen leiden unter dem sogenannten „Hochstapler-Syndrom“. Sie stapeln – anders als der Name anmuten lässt – besonders tief, obwohl sie eigentlich viel können.

Offiziell taucht der Begriff Hochstapler-Syndrom nicht im ICD-10 auf; er beschreibt also keine klassische psychische Erkrankung. Gemeint sind jedoch Menschen, die überragende Leistungen erbringen, gelobt werden – und dennoch glauben, ihre Leistung wäre Glück oder Zufall. Weil sie sich deshalb als eine Art Betrüger wahrnehmen, ist im Englischen auch die Rede von „Impostor“, also dem Betrüger-Syndrom.

Lese-Tipp: Dunning-Kruger-Effekt: Angebliche Experten und ihre Selbstüberschätzung

Anzeige

Wie können Fachkräfte ihre Selbstzweifel loswerden?

Neben der beruflichen Qualifikation, die einen besonderen Vorteil verschafft, sprechen aktuell viele Gründe dafür, dass Fachkräfte ihren Pessimismus getrost ablegen dürfen:

  • Es ist Zeit, sich nach der eigenen Wunschstelle umzuschauen: Die „Schmerzgrenze“ von Arbeitgebern wird strapazierfähiger in einer Zeit, in der sie auf Personal angewiesen sind. Fachkräfte genießen eine gute Verhandlungsposition. Wer mutig genug ist, traut sich, mehr als der Durchschnitt zu verlangen – und könnte damit Erfolg haben. Ein guter Grund, um nagenden Selbstzweifeln den Rücken zu kehren.
  • Es existieren Optionen: Die Angst davor, keine passende Stelle zu finden, ist verständlich – aber vor allem in Bereichen mit hohem Fachkräftemangel nicht mehr angebracht. Auch wenn es mit der ersten, zweiten oder vierten Stelle nicht klappt, weil die Bedingungen zum Beispiel nicht stimmen, stehen weitere Optionen offen. Qualifizierte Fachkräfte werden mehr als dringend gesucht. Auch das ist ein guter Grund, um sich von Zweifeln schnellstmöglich zu verabschieden.

Wie schätzen Fachkräfte ihre eigene Zukunft ein?

Es herrscht nicht ausschließlich Pessimismus auf Seiten der Arbeitnehmer und Fachkräfte.

Laut der Stepstone-Untersuchung hadern diese zwar mit ihrem Marktwert. Ein Hoffnungsschimmer ist jedoch ersichtlich. Denn die Ergebnisse der Umfrage zeigen auch, dass sie nicht ganz so düster in die eigene Zukunft blicken. Sie glauben, dass sich ihre persönlichen Chancen in den nächsten Jahren, also bis 2030, verbessern werden.

Eine Umfrage, die das Marktforschungsinstitut Respondi durchgeführt hat, bestätigt diese Tendenz. Besonders optimistisch sind demnach vor allem junge Fachkräfte aus der Pflege. Nahezu 90 Prozent der Befragten gaben an, dass sie in der privilegierte Positionen seien, sich ihre Stelle selbst aussuchen zu können. Sie sind von ihrer eigenen Qualifikation und ihrer Erfahrung durchaus überzeugt.

Würde dieses Selbstbewusstsein sich auf alle Arbeitnehmer und Suchende aus unterbesetzten Branchen übertragen, wären mit Sicherheit weniger Stellen offen.

Bildnachweis: fizkes/istockphoto.com

Anzeige
Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

Mach mit und diskutiere mit uns in unserer Skool Community!

Egal, ob du Fragen hast, Antworten suchst oder einfach nur deine Erfahrungen zu diesem oder anderen Themen teilen möchtest, du bist herzlich willkommen. Diskutiere mit, erweitere dein Wissen und werde Teil einer inspirierenden Gemeinschaft. Zur Arbeits-ABC Community