Die Vorstellung, dass in Unternehmen vor allem die Skrupellosen Karriere machen, ist längst ein Klischee. In Wirklichkeit sind es häufig die Engagierten, die Empathischen, die Zuverlässigen, die ins mittlere und obere Management aufsteigen. Menschen, die im Team beliebt waren, die Fachexpertise haben, die Verantwortung übernehmen wollten, die man schlussendlich ruhigen Gewissens befördert hat.
Und doch stehen gerade diese Menschen später sinnbildlich für das, was in Unternehmen schiefläuft: als abgehobene Entscheider, als Mikromanager, als Führungskräfte, die das Vertrauen ihrer Mitarbeitenden Schritt für Schritt verspielen. Wie kann das sein?
Diese Frage steht im Zentrum des TEDxTalks Why Good People Become Bad Bosses von Jamie Woolf und Dr. Chris Bell. Ihre These ist ebenso überraschend wie beunruhigend: Die meisten Führungsschäden entstehen nicht durch narzisstische Machtmenschen, sondern durch gutmeinende Führungskräfte, die aufgehört haben, sich selbst kritisch zu reflektieren.
Führung verändert die Perspektive – buchstäblich
Psychologische Studien zeigen seit Jahren: Wer über andere entscheidet, verliert leichter das Gespür für ihre Bedürfnisse, Sorgen und Gefühle. Macht reduziert teilweise empathisches Empfinden. Nicht, weil man das so will, sondern weil sie den Fokus verschiebt – weg vom Gegenüber, hin zur Verantwortung, zur Aufgabe, zur Organisation.
Macht verändert unsere Wahrnehmung – sie verschiebt die Perspektive. Im TEDxTalk nennen Woolf und Bell dieses Phänomen „Powerblindness“: die Unfähigkeit, die Wirkung der eigenen Führung realistisch einzuschätzen.
Und genau hier beginnt das Problem: Viele Führungskräfte merken diesen Verlust nicht. Denn um sie herum wird es seitens der Mitarbeitenden regelrecht still.
Was nicht mehr gesagt wird, wiegt dabei schwerer als das, was noch ausgesprochen wird. Schweigen ist selten Zustimmung – meist ist es ein Zeichen von Unsicherheit. Wenn in Meetings niemand mehr bei offensichtlich falschen Ansätzen widerspricht, kritische Fragen nur noch im hinter vorgehaltener Hand gestellt werden und Feedback lieber anonym geäußert wird, ist das kein Beleg für gute Führung, sondern ein Warnsignal: Die psychologische Sicherheit im Team ist verloren gegangen.
Wenn Führung zur Rüstung wird
Woolf und Bell beschreiben, wie Führungskräfte mit der Zeit eine „Rüstung“ anziehen: ein psychologisches Schutzsystem, das hilft, Druck und Komplexität im Führungsalltag auszuhalten, das aber gleichzeitig die Verbindung zum Team kappt. Diese Rüstung kann viele Formen annehmen:
- sachliche Kälte,
- operative Hektik,
- übertriebene Kontrolle
- oder auch demonstrative Souveränität.
Gemeinsam ist ihnen aber vor allem eines, dass sie Nähe zum Team verhindern. Und Nähe ist nun einmal die Voraussetzung für Vertrauen zwischen Menschen. Die Rüstung schützt so das eigene Selbstbild. Sie bewahrt vor Verletzlichkeit, vor Zweifeln, vor Kontrollverlust. Doch sie verhindert auch Entwicklung. Denn sie blockiert genau jene Rückmeldungen, die helfen würden, blinde Flecken im eigenen Tun und Handeln zu erkennen – die Diskrepanz zwischen dem, was man eigentlich beabsichtigt, und dem, was tatsächlich ankommt.
Selbstbild contra Fremdwahrnehmung
Dabei glauben viele Führungskräfte, ihr Fürungsstil sei offen, klar, verständlich. Sie empfinden sich als Teil des Teams, nicht als Strippenzieher darüber. Doch die Sicht des Teams ist häufig eine andere. Mitarbeitende erleben eher Distanz, Machtspiele oder schlichtweg Desinteresse.
Während sich die Führungskraft als zugänglich empfindet, erleben Mitarbeitende sie als übermächtig. Während sie sich als transparent sieht, bleibt für andere vieles im Dunkeln.
Diese Diskrepanz ist schwer aufzulösen, solange keine ehrliche Rückmeldung erfolgt. Doch je weiter oben jemand steht, desto unwahrscheinlicher wird genau das. Kritik an der Führungskraft zu äußern, bleibt in vielen Unternehmen ein Tabu – unabhängig von der vielerorts geprisenen Feedbackkultur.
Selbstreflexion ist unbequem, aber nötig
Was also tun? Der TEDx-Talk liefert keine „Leadership Hacks“, sondern verweist auf das, was in vielen Führungsetagen fehlt: die Fähigkeit zur realistischen Selbsteinschätzung. Wer führen will, muss sich mit seiner Wirkung auseinandersetzen – und das sollte kontinuierlicher Bestandteil des Führungsalltages sein. Es geht nicht um Werte-Workshops oder Persönlichkeitsprofile. Sondern darum, regelmäßig Störgeräusche zuzulassen: Widerspruch, Zweifel, Kritik.
„Meet the Mirror“ nennen sie im TEDx-Talk diesen Prozess. Gemeint ist damit der radikale Perspektivwechsel: sich selbst so zu sehen, wie andere einen erleben. Nicht das Image, nicht die Absicht, sondern die Wirkung. Dafür braucht es den Mut zur Irritation und zur Frage, was man lieber nicht hören möchte. Denn genau dort beginnt echte Entwicklung.
Führung beginnt nicht bei anderen, sondern bei sich selbst
Wer dauerhaft Einfluss auf Menschen ausübt, muss die eigene Rolle nicht nur ausfüllen, sondern regelmäßig infrage stellen. Es reicht einfach nicht, vieles nur gut zu meinen. Entscheidend ist, wie Entscheidungen wirken, wie Kommunikation ankommt, wie viel Raum für Rückmeldungen der Mitarbeitenden bleibt.
Lese-Tipp: Besser führen: Arbeite zuerst an dir, bevor du an deinem Team arbeitest
Gute Menschen scheitern in Sachen Führung also nicht, weil sie autoritär werden, sondern weil sie ihre Wirkung unterschätzen. Weil sie Feedback überhören oder schlichtweg nie bekommen. Weil sie beginnen, die eigene Wahrnehmung für objektiv zu halten.