40 Bewerbungen für ein einziges Vorstellungsgespräch. Und am Ende: keine Antwort, kein Feedback, aber Ghosting. Für viele junge Akademikerinnen und Akademiker ist das kein Einzelfall, sondern harter Alltag. Während Politik und Wirtschaft unermüdlich über den Fachkräftemangel klagen, finden Hochschulabsolventen oft keinen Einstieg. Die Zahlen zeigen: Der Arbeitsmarkt ist für Berufseinsteiger aktuell so hart wie lange nicht mehr.
Willst du wirklich noch studieren?
Wenn du heute Anfang 20 bist und gerade deinen Bachelor oder Master gemacht hast, hast du vermutlich gedacht: Jetzt geht’s los. Der Arbeitsmarkt wartet. Schließlich herrscht in Deutschland akuter Fachkräftemangel. Doch das stimmt nur halb. Eine Stepstone-Analyse zeigt: Der Anteil ausgeschriebener Einstiegsjobs lag im ersten Quartal 2025 satte 45 Prozent unter dem Fünfjahresdurchschnitt und damit sogar unter dem Niveau der Corona-Zeit.
Die Botschaft: Selbst mit einem guten Abschluss bist du heute kein Selbstläufer mehr. Und: Nicht jede Branche ist überhaupt noch offen für Berufseinsteiger.
Auch eine Statistik der Arbeitsagentur bestätigt die angespannte Lage am Arbeitsmarkt: 2024 stieg die Arbeitslosigkeit unter Akademikern um 19 Prozent, während die Gesamtarbeitslosigkeit nur um 7 Prozent zunahm. Formal liegt die Quote mit 2,9 Prozent zwar weiter im Bereich Vollbeschäftigung. Aber die Diskrepanz zwischen Statistik und Realität ist groß: Während Zahlen Stabilität signalisieren, erleben viele Berufseinsteiger die ersten Schritte ins Arbeitsleben als Hürde, nicht als Chance.
Ein schwieriger Markt – aber nicht für alle
Vor allem klassische Bürojobs, die lange als bevorzugter Einstieg für Akademiker galten, brechen weg. Laut Stepstone ging das Angebot an Einstiegsstellen
- im Vertrieb um 56 %,
- im Personalwesen um 50 %
- und in der Verwaltung um 34 % zurück.
Verglichen mit dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Wer also in einen Schreibtischjob wollte, hat aktuell schlicht weniger Optionen.
Gleichzeitig wächst die Nachfrage dort, wo Menschen direkt mit Menschen arbeiten:
- Im Bildungswesen stieg die Zahl der ausgeschriebenen Einstiegspositionen um 96 %,
- im Handwerk immerhin um 52?%.
Der Arbeitsmarkt signalisiert: Persönlicher Kontakt ist wertvoller geworden als reine Verwaltungsarbeit.
Diese strukturelle Verschiebung betrifft aber nicht nur Berufe, sondern auch Bildungswege. Akademiker tun sich beim Einstieg ins Berufsleben spürbar schwerer als Gleichaltrige mit abgeschlossener Ausbildung. Sie verschicken im Median 40 Bewerbungen, bis sie überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden – Menschen mit Ausbildung schaffen das oft schon mit 26 Bewerbungen.
Auch die Bundesagentur für Arbeit meldet einen Rückgang der Akademiker-Nachfrage: 2024 wurden nur noch 206.000 hochqualifizierte Stellen gemeldet, ein Minus von 12 % – stärker als im Durchschnitt aller Berufe (–8 %). Zwar stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Akademiker auf 7 Mio. (+2 %), doch das Wachstum fiel deutlich schwächer aus als in den Boomjahren.
Die Bewerbungsrealität widerspricht damit dem alten Mantra, dass ein Studium automatisch bessere Berufs- und Einstiegsperspektiven bietet.
Bewerben als Vollzeitjob – und dann: Ghosting
Nicht nur die Chancen unterscheiden sich. Auch der Aufwand, den Bewerber heute betreiben müssen, ist enorm – und oft frustrierend. Akademiker investieren im Schnitt sieben Stunden pro Bewerbungsprozess, Ausbildungsabsolvent rund fünf Stunden. Und trotz des Aufwands bleibt die Ausbeute eher mager: Nur drei bis vier Bewerbungen führen im Schnitt zu einem Vorstellungsgespräch, unabhängig vom Bildungsabschluss.
Besonders bitter: Ghosting hat sich etabliert, selbst im professionellen Kontext. 74 Prozent der Akademiker berichten, dass sie auf Bewerbungen gar keine Rückmeldung erhalten haben. Bei Menschen mit einer regulären Ausbildung sind es 61 Prozent. Das ist nicht nur unhöflich, sondern verschwendet auch Zeit und Energie und demotiviert eine ganze Generation. Wer wochenlang Lebenslauf und Anschreiben perfektioniert, will zumindest ein „Nein, danke“ hören.
Man könnte meinen, dass Unternehmen in Zeiten von Fachkräftemangel aktiver und wertschätzender mit interessierten Jobkandidaten umgehen. Doch offenbar reicht der Mangel nicht, um alte Machtverhältnisse in Bewerbungsprozessen aufzubrechen.
Lese-Tipp: Machtwechsel am Arbeitsmarkt: Bewerber bestimmen jetzt die Spielregeln
Zwischen Wirtschaftsflaute und Demografieschock
Warum ist der Berufseinstieg gerade jetzt so kompliziert? Die Antwort liegt in einem recht paradoxen Spannungsfeld: Auf der einen Seite befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer anhaltenden Schwächephase. Investitionen bleiben aus, viele Unternehmen halten sich bei Neueinstellungen zurück, insbesondere bei Berufseinsteigern, die zunächst eingearbeitet werden müssen. Auf der anderen Seite schlägt der demografische Wandel zunehmend durch. Schon heute gehen jedes Jahr Hunderttausende Babyboomer in Rente. Und bis 2036 sollen laut IW-Köln fast 20 Mio. Babyboomer das gesetzliche Renteneintrittsalter erreichen. Dieser Trend wird den Arbeitsmarkt drastisch verändern.
„Wir durchleben eine wirtschaftliche Schwächephase, aber gleichzeitig bleibt der Fachkräftemangel bestehen. Der demografische Wandel wird den Arbeitsmarkt schon in wenigen Jahren spürbar verschärfen. Deshalb gilt: Wer heute in Nachwuchstalente investiert, sichert sich morgen entscheidende Wettbewerbsvorteile.“ – Dr. Tobias Zimmermann, Arbeitsmarktexperte bei The Stepstone Group
Parallel bleibt die Zahl der Studierenden hoch: Im Wintersemester 2024/25 waren 2,9 Mio. Menschen in Deutschland eingeschrieben. Jahr für Jahr drängen also Hunderttausende neue Akademiker auf den Arbeitsmarkt und treffen auf eine Konjunktur, die Einstiegsstellen abbaut. Das macht den Berufseinstieg zu einem Flaschenhals: Der Bedarf wächst, aber die Tür bleibt zu.
Der Wandel der Einstiegsjobs – weniger Excel, mehr Emotion
Die veränderte Nachfrage nach Einstiegspositionen hat tiefere Ursachen als bloße Konjunkturdellen. Sie spiegelt einen grundlegenden Strukturwandel wider: Weg von standardisierter Schreibtischarbeit, hin zu Berufen, in denen menschliche Nähe, Kommunikation und Handwerk gefragt sind.
Dass der Bildungsbereich um 96 % mehr Einstiegsjobs bietet als noch vor wenigen Jahren, liegt nicht nur am gestiegenen Bedarf an Betreuung und Unterricht. Es zeigt auch, dass soziale Kompetenzen – lange belächelt als „Soft Skills“ – zunehmend zur harten Währung im Berufsleben werden.
Die digitale Transformation verschiebt den Wert menschlicher Arbeit. Was sich automatisieren lässt, wird automatisiert. Doch Empathie, Konfliktlösung, Teamführung, Pflege, Beratung – das bleibt. Oder wird sogar noch wichtiger.
Diese Entwicklung eröffnet Chancen, aber sie setzt auch einen gewissen Anpassungswillen voraus. Junge Menschen, die auf ein klassisches „Studium = Karriere = Bürojob“-Modell gesetzt haben, müssen umdenken. Und Ausbildungsbetriebe müssen neue Kompetenzprofile integrieren, etwa den Umgang mit KI-Tools, digitale Zusammenarbeit oder die Fähigkeit, mit permanenter Veränderung souverän umzugehen.
„Unternehmen stehen vor der Herausforderung, junge Talente gezielt auf den Arbeitsmarkt von morgen vorzubereiten.“ – Dr. Tobias Zimmermann
Das klingt nach Strategie. Doch in vielen Betrieben fehlt es dafür noch an Mut und an konkreten Umsetzungsplänen.
Der Einstieg muss kein Hindernis sein, sondern ein Versprechen
Der Berufseinstieg in Deutschland ist zur Prüfung geworden: Wer jung ist, braucht Geduld, Frustrationstoleranz und darf sich nicht zu schade sein, eben jene 40 Bewerbungen zu schreiben. Das ist nicht effizient. Und nicht zukunftsfähig. Denn während die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte sinkt, steigt die Bedeutung jeder einzelnen Nachwuchskraft. Trotzdem agieren viele Unternehmen, als wäre der Eintritt junger Menschen ins Berufsleben ein Risiko, das man minimieren muss. Das Gegenteil ist richtig:
Wer heute in junge Talente investiert, baut morgen die Zukunft seines Unternehmens.
Die Bundesagentur für Arbeit betont zwar: Akademiker hätten langfristig „gute Chancen“. Stepstone hingegen zeigt, wie hoch die Hürden im Hier und Jetzt sind. Beides stimmt – und genau darin liegt die Aufgabe für Arbeitgeber: den Übergang vom Studium in den Job nicht als Barriere, sondern als strategische Investition zu begreifen.