Ein Führungsfehler hier, ein Versagen dort – und zack: Die Schuldfrage ist geklärt. Immer ist die Führungskraft schuld. Ein Projekt scheitert? Der Chef war’s. Das Team kracht? Klar, schlechtes Leadership. Aber ist das wirklich fair? Oder wird’s Zeit, den Blick auch auf jene zu richten, die geführt werden – die Mitarbeiter?
Die Illusion der omnipotenten Führungskraft
In vielen Unternehmen existiert der Glaube, dass Führungskräfte allwissende, fast schon übermenschliche Wesen sind, die mit ihrer Weisheit und Entscheidungsfähigkeit jedes Problem im handumdrehen lösen können. Doch ebenso wie Mitarbeiter, haben auch Führungskräfte ihre Schwächen, blinden Flecken und Grenzen. Manchmal können sie schlichtweg nicht jedes individuelle Problem im Blick haben – schon gar nicht in komplexen Organisationsstrukturen.
Ein Paradebeispiel liefern diverse Studien, die zeigen, dass ca. 70 Prozent der Variabilität in der Mitarbeiterengagement direkt von der Beziehung zum Vorgesetzten abhängt. Das klingt eindeutig nach Führungsverantwortung. Doch diese Erkenntnis greift zu kurz, wenn man bedenkt, dass auch Mitarbeiter einen erheblichen Teil zu dieser Beziehung beitragen.
Eigenverantwortung von Mitarbeitern: Ein seltenes Gut?
Selbstverwirklichung und Eigeninitiative gelten als heilige Grale des modernen Berufslebens. Umso erstaunlicher, wie selten sie tatsächlich eingefordert werden. Viel zu oft wird gewartet, bis „oben“ etwas sagt – anstatt selbst anzupacken. Verantwortung? Lieber delegiert als gelebt. Ein klares Missverständnis:
Teamarbeit ist kein Netflix-Abo – Zurücklehnen und auf Input warten funktioniert im Job nicht.
Wieso also erwarten wir von Führungskräften, dass sie immer und überall den richtigen Weg weisen – so wie unsere Großeltern, die auf alles eine Antwort oder Richtung wussten? Warum nicht einmal die Frage stellen: Was habe ich selbst beigetragen – oder eben nicht beigetragen? Wie oft bleibt die eigene „Schuld“ unerkannt, verborgen hinter der bequemen Ausrede, dass die Führungskraft doch alles hätte regeln sollen?
Der „faule Apfel“-Effekt
Es gibt ihn, den berüchtigten „faulen Apfel“ im Team. Ein Mitarbeiter, der jede positive Dynamik im Keim erstickt, durch Demotivation oder gar aktive Sabotage. Und ja, es liegt an der Führungskraft, diesen Mitarbeiter zu disziplinieren oder, wenn nötig, aus dem Team zu entfernen. Aber wie lange dauert es, bis dieser „faule Apfel“ erkannt wird? Und welche Verantwortung tragen die anderen Teammitglieder, die vielleicht den Mund halten, anstatt auf Missstände hinzuweisen? Ein Team ist mehr als die Summe seiner Teile, und jedes Teammitglied trägt eine Verantwortung, die nicht einfach ignoriert werden kann.
Der blinde Fleck der Führungstheorien
Vielerorts wird mit großem Enthusiasmus über agile Führung, transformational Leadership oder Servant Leadership gesprochen. All diese Theorien haben ihre Daseinsberechtigung und ihren Wert – jedoch haben sie auch ihre Grenzen. Keine Theorie berücksichtigt vollends die Eigenverantwortung des Einzelnen, der auch in einer noch so idealen Führungsstruktur eigene Entscheidungen trifft und eigenständig agiert.
In seiner berühmten Theorie Y beschreibt Douglas McGregor, dass Menschen grundsätzlich motiviert und fähig sind, Verantwortung zu übernehmen. Doch wenn dem so ist, warum scheint in der Realität diese Eigenverantwortung oft zu fehlen? Vielleicht, weil es bequemer ist, im Schatten der Führung zu verweilen, anstatt sich selbst zu exponieren?
Die Lösung liegt im Zusammenspiel
Verantwortung ist kein Wanderpokal. Sie lässt sich nicht einfach weiterreichen wie eine lästige Trophäe. Wer versucht, sie anderen unterzujubeln, macht sich nicht frei – er macht es nur komplizierter. Führung funktioniert nur, wenn beide Seiten mitspielen: Chefs, die Verantwortung übernehmen. Und Mitarbeitende, die nicht nur empfangen, sondern auch aktiv beitragen. Denn eine Führungskraft kann nur so wirksam sein, wie das Team es zulässt. Erfolg entsteht nicht durch perfekte Chefs, sondern durch gemeinsames Ziehen – in dieselbe Richtung.
Also: Nicht immer mit dem Finger auf die Führungskraft zeigen, lieber mal an die eigene Nase fassen. Die eigentliche Frage lautet doch: Was kann jeder Einzelne tun, um die Zusammenarbeit und das Ergebnis zu verbessern, unabhängig von der eigenen Position?