Deutschland macht nur noch Dienst nach Vorschrift – so zumindest das Ergebnis einer aktuellen Studie. Über 75 % der Beschäftigten leisten nur noch das, was von ihnen erwartet wird, nicht mehr und nicht weniger. Was für manche nach einem Alarmsignal klingt, könnte in Wahrheit ein längst überfälliger Schritt hin zu einer gesünderen Arbeitskultur sein.
Stille Rebellion gegen Selbstausbeutung
Lange Zeit galt es als Tugend, sich für den Job regelrecht aufzureiben: Überstunden, ständige Erreichbarkeit, Perfektionismus, Leistung – all das wurde als Zeichen für Engagement und Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber gewertet. Doch für viele bedeutete das vor allem eines: chronischer Stress, Burnout und eine schleichende Entfremdung von der eigenen Arbeit und teils auch von den eigenen Werten und Zielen. Dienst nach Vorschrift ist daher nicht unbedingt ein Zeichen von Faulheit, sondern vielmehr ein Schutzmechanismus.
Psychologisch betrachtet könnte diese Entwicklung sogar ein positives Signal sein. Die sogenannte „Great Resignation“, die in den USA Millionen von Menschen dazu brachte, ihre Jobs zu kündigen, hat gezeigt, dass viele Arbeitnehmer nicht mehr bereit sind, sich für ein System aufzuopfern, das ihnen kaum Wertschätzung entgegenbringt. Dienst nach Vorschrift kann daher als eine Art stiller Protest gegen toxische Arbeitsstrukturen gesehen werden – eine Form von „Quiet Quitting“, also innerer Kündigung, die gleichzeitig eine Rückbesinnung auf eine gesündere Balance zwischen Beruf und Privatleben bedeutet.
Es fehlt an Sinn und Motivation
Doch wo ist die Grenze zwischen einem gesunden Maß an Distanz zur Arbeit und völliger Entfremdung? Wenn Menschen sich nur noch mechanisch durch ihren Job bewegen, hat das langfristig natürlich Folgen. Die Selbstbestimmungstheorie der Psychologen Deci und Ryan zeigt, dass Motivation genau dann entsteht, wenn Menschen Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit erleben. Fehlt eine dieser Komponenten – beispielsweise weil man keinen Gestaltungsspielraum mehr sieht oder sich eben nicht wertgeschätzt fühlt – sinkt die Motivation rapide.
Ein weiteres Problem: Wer sich ausschließlich an das Minimum am TUN hält, könnte auf lange Sicht auch weniger Erfüllung in seiner Arbeit finden. Arbeit ist nicht nur eine Pflicht, sondern kann auch eine Quelle von Selbstverwirklichung und Sinn sein. Die Frage ist also nicht, ob Dienst nach Vorschrift per se gut oder schlecht ist, sondern was die Ursache für diese Arbeitshaltung ist.
Für viele kommt noch ein anderer Frustfaktor hinzu: die Rente. Wer Jahrzehnte lang arbeitet, erwartet im Alter eine Absicherung – doch für viele Beschäftigte ist der Rentenbescheid eher ein Schock als eine Beruhigung. Steigende Lebenshaltungskosten, sinkendes Rentenniveau und das Wissen, dass selbst ein Leben voller Arbeit nicht automatisch für eine sorgenfreie Zukunft reicht, lassen viele an der Sinnhaftigkeit ihres Engagements zweifeln. Warum sich für einen Job aufreiben, wenn am Ende eines Arbeitslebens kaum genug bleibt, um gut sein Rentendasein zu beschreiten? Auch diese ernüchternde Erkenntnis trägt dazu bei, dass immer mehr Menschen nur noch Dienst nach Vorschrift leisten – nicht aus Faulheit, sondern aus einer rationalen Abwägung.
Fühlen sich Menschen respektiert, fair bezahlt (Stichwort: Gender Pay Gap) und im Job gesehen, ist Dienst nach Vorschrift eher ein Zeichen für gesunde Grenzen. Wenn dagegen Anerkennung, finanzielle Sicherheit und ein echtes Zugehörigkeitsgefühl fehlen, verliert man irgendwann die Lust – und macht eben nur noch das Nötigste.
Dienst nach Vorschrift als Weckruf für Unternehmen sehen
Wenn die Mehrheit der Beschäftigten nur noch das Nötigste tut, ist das nicht nur ein Signal für eine gesündere Work-Life-Balance, sondern gleichzeitig auch eine Mahnung an Unternehmen. Statt Dienst nach Vorschrift als Problem zu stigmatisieren, sollten Arbeitgeber sich fragen: Warum fehlt die Motivation? Wo mangelt es an Wertschätzung? Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, damit Arbeit nicht als bloße Pflicht empfunden wird, sondern als sinnvoll und erfüllend?
Vielleicht ist dieser Trend also weniger eine Krise der Arbeitsmoral, sondern vielmehr ein überfälliger Wandel hin zu einer neuen, gesünderen Arbeitswelt. Was denkst du?