„Clients do not come first. Employees come first. If you take care of your employees, they will take care of the clients.“ Richard Branson formulierte diesen Satz so einfach wie einprägsam. Viele Unternehmen hängen ihn an die Wand oder posten ihn auf Xing, LinkedIn und Co.. Doch zwischen Zitat und Realität klafft oft ein tiefer Graben. Denn vielerorts gilt nach wie vor: Der Kunde ist König – die Mitarbeiter bestenfalls Hofpersonal. Mit weitreichenden Folgen. Für die Motivation. Für die Gesundheit. Und letztlich fürs Geschäft.
Ausgebrannte Höflinge regieren kein Königreich
Was geschieht, wenn das höfliche Lächeln am Empfang zur Maske wird und hinter der freundlichen Stimme am Telefon nur noch Erschöpfung steckt? Wenn Mitarbeitende durch Überstunden, Dauererreichbarkeit und ständig wechselnde Prioritäten verschlissen werden, entsteht eine Unternehmenskultur, die den Menschen zur bloßen Ressource degradiert. Wertschöpfung beginnt jedoch nicht erst beim Kunden, sondern bei denen, die ihn betreuen.
Seit Jahrzehnten dominiert das Mantra der totalen Kundenorientierung. Wer in den 90ern wettbewerbsfähig sein wollte, musste den Kunden um jeden Preis zufriedenstellen. In der Praxis bedeutete das häufig: Dauerstress für die Mitarbeitenden und ein Management, das Leistung um jeden Preis fordert. Aus Leidenschaft wurde Pflichtbewusstsein, aus Engagement Zwang.
Entfremdung lässt sich nicht in Zahlen messen
Effizienz, Optimierung, Digitalisierung – alles muss schlanker, schneller, smarter werden. Doch wer wagt es, nach den emotionalen Kosten zu fragen? Wer gegen den Druck rebelliert, gilt als störend oder Low Performer.
Das Ergebnis: Menschen entfremden sich von ihrer Arbeit, schalten innerlich ab und ziehen sich emotional zurück. Mails werden am Wochenende gecheckt, Ja gesagt, obwohl man eigentlich Nein meint. Burnout und stille Kündigung sind längst keine Einzelfälle mehr.
Psychologische Sicherheit: Mehr als nette Benefits
Ein Begriff, den Unternehmen oft ignorieren, ist „Psychological Safety“. Ein Umfeld, in dem Mitarbeitende Fragen stellen, Fehler eingestehen und Kritik äußern können, ohne negative Folgen befürchten zu müssen. Genau dieser Freiraum ist der Schlüssel zu echter Performance. Studien belegen eindeutig: Teams mit psychologischer Sicherheit liefern bessere Ergebnisse, denn sie engagieren sich freiwillig und offen.
Die Realität sieht oft anders aus. Feedback wird zum Kontrollinstrument, Flexibilität bedeutet ständige Verfügbarkeit, Delegieren gerät zur reinen Aufgabenverschiebung. Wer hier Grenzen zieht, riskiert die Zugehörigkeit zum Team oder gar den Absturz von der Karriereleiter.
Das Problem liegt nicht nur bei schlechten Chefs
Schlechte Führungskräfte gibt es überall. Entscheidend ist aber, warum sich oft nichts ändert. Der unangenehme Grund: Unternehmen dulden oder fördern solche Führung. Kontrolle statt Entwicklung, Überforderung statt Unterstützung – wer sich so verhält, passt gut in ein System, das auf maximalen Output und minimalen Widerstand ausgelegt ist. Und unter immensem Leistungsdruck und unrealistischen Zielen wird der Mensch schnell zur bloßen Personalnummer reduziert.
Die Zahlen sprechen für sich
Laut Gallup Engagement Index 2024 fühlen sich gerade einmal 9 Prozent der Beschäftigten ihrem Arbeitgeber emotional verbunden. Die überwiegende Mehrheit macht Dienst nach Vorschrift oder plant bereits innerlich den Absprung. Die volkswirtschaftlichen Schäden dieser emotionalen Entfremdung summieren sich auf jährlich bis zu 135 Milliarden Euro.
Und nicht nur das: High Performer kündigen oft als erste und ziehen weitere Kollegen nach. Diejenigen, die bleiben, tun dies in der Regel nicht aus Überzeugung, sondern aus Pflichtgefühl oder Unsicherheit. Das lähmt Innovationskraft und Engagement und ist Gift für jede Unternehmenskultur.
Employees first – aber richtig
Mitarbeiter in den Fokus zu stellen bedeutet nicht: Jeder darf alles. Es bedeutet klare Bedingungen für gute Arbeit zu schaffen:
- Belastungen erkennen, bevor sie krank machen.
- Klare Grenzen setzen, auch gegenüber Kunden.
- Lernen ermöglichen, statt nur Leistung einzufordern.
- Vertrauen schenken, statt Präsenz zu kontrollieren.
- Mitarbeitergespräche zu Entwicklungsgesprächen machen.
- Raum für Fehler und offene Kommunikation schaffen.
Der Kunde profitiert letztlich von zufriedenen Mitarbeitenden, denn eingespielte, motivierte Teams finden schneller Lösungen, bieten besseren Service und schaffen echte Kundenbindung. Kundenorientierung beginnt also tatsächlich nicht beim Kunden, sondern bei denen, die ihn überhaupt erst möglich machen.