Es ist nur ein Satz. Sechs Worte, freundlich gefragt, beiläufig platziert – und doch wirkt er auf viele Bewerberinnen und Bewerber wie ein plötzlicher Lichtkegel auf einer dunklen Bühne: „Haben Sie sich noch woanders beworben?“ Kaum ausgesprochen, geht im Kopf eine rasende Gedankenkarussellfahrt los:

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  • Was darf ich sagen?
  • Was darf ich nicht sagen?
  • Bin ich raus, wenn ich ehrlich bin?
  • Oder unglaubwürdig, wenn ich lüge?

Was auf den ersten Blick wie eine formale Frage im Auswahlprozess erscheint, ist in Wahrheit ein psychologischer Mikromoment. Einer, der bei Bewerbern Unsicherheit auslösen kann, Scham, manchmal sogar Schuldgefühle. Und einer, der viel darüber verrät, wie wir heute über Arbeit, Loyalität und Selbstvermarktung denken – und wie schwer es uns fällt, dabei ganz wir selbst zu bleiben.

Signalwirkung: Warum Auswahl uns attraktiver macht

In Zeiten, in denen Fachkräftemangel und Selbstoptimierung scheinbar gleichberechtigt nebeneinander existieren, ist die Frage nach anderen Bewerbungen kein Zufall. Sie ist ein taktisches Mittel – aus Sicht des Unternehmens durchaus nachvollziehbar. Denn sie hilft Personalverantwortlichen, einzuschätzen:

  • Wie gefragt ist diese Person auf dem Markt?
  • Wie schnell müssen wir entscheiden, um sie nicht zu verlieren?

Gleichzeitig ist sie eine Art sozialer Test: Bewerber sollen zeigen, dass sie begehrt sind – aber nicht ungeduldig. Offen – aber nicht wahllos. Souverän – aber bitte nicht zu fordernd. Eine emotionale Gratwanderung, die in keinem Bewerbungshandbuch steht, aber in fast jedem Vorstellungsgespräch mitschwingt.

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Die psychologische Falle: Loyalität vs. Selbstbehauptung

Wir leben in einer Arbeitskultur, in der immer noch die Vorstellung mitschwingt, man müsse sich im Vorstellungsgespräch so präsentieren, als sei diese eine Stelle die einzig wahre. Und wer dann zugibt, dass er parallel noch woanders Gespräche führt, fürchtet: Wirkt das nicht unentschlossen? Oder gar berechnend?

Aber genau hier liegt der Denkfehler: Denn Unternehmen gehen heute davon aus, dass starke Jobkandidaten nicht nur eine Option verfolgen – sondern mehrere. Ein Bewerber, der sich ausschließlich bei einem einzigen Unternehmen vorstellt, mag auf den ersten Blick fest entschlossen wirken, für diese Firma arbeiten zu wollen – doch aus Sicht von Personalverantwortlichen kann das auch als Mangel an Perspektive oder Marktwert gelesen werden.

Psychologisch spricht man hier vom Signalwert: Wer glaubhaft vermittelt, dass er mehrere Optionen hat, erscheint automatisch als attraktiver – selbst dann, wenn der Wunschjob längst feststeht. 

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Die Kunst, sich nicht zu rechtfertigen

Wie also antworten auf diese Frage „Haben Sie sich noch woanders beworben?“ – ohne sich zu verbiegen? Die Empfehlung ist eindeutig: Nicht lügen – sondern Ja sagen. Aber mit Haltung.

„Ich befinde mich aktuell in einigen Gesprächen mit Unternehmen, die ähnliche Werte und Ziele verfolgen. Für mich steht im Vordergrund, ein Arbeits- Wirkungsumfeld zu finden, das nicht nur fachlich passt, sondern auch menschlich. Und Ihr Unternehmen hat mich genau in diesem Punkt besonders angesprochen.“

Diese Antwort auf macht vieles richtig:

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  • Sie signalisiert Offenheit und Auswahl, ohne konkret zu werden.

  • Sie betont den bewussten Entscheidungsprozess.

  • Und sie lenkt die Aufmerksamkeit elegant zurück auf das Gespräch und die Passung – nicht auf Konkurrenz.

Vor allem aber: Sie vermeidet Rechtfertigungen. Denn wer sich rechtfertigt, stellt sich selbst in Frage. Wer hingegen klar kommuniziert, dass mehrere Gespräche laufen, aber eines besonders wichtig erscheint – der handelt nicht taktisch, sondern reflektiert.

Lügen haben auch im Bewerbungsgespräch kurze Beine

Was tun, wenn es eigentlich keine anderen Gespräche gibt? Lügen im Bewerbungsgespräch ist verlockend – aber gefährlich. Nicht nur, weil es riskant ist (Nachfragen sind möglich), sondern weil Lügen im Gespräch häufig an der Körpersprache erkennbar sind. Menschen, die lügen, verstricken sich leicht in inneren Widersprüchen – das erzeugt Anspannung. Und Anspannung signalisiert: etwas stimmt nicht.

Viele Menschen geraten innerlich unter Druck, wenn sie nicht bei der Wahrheit bleiben – besonders in stressgeladenen Situationen wie einem Bewerbungsgespräch – wo Antworten auf dem FF kommen sollten. Die Konzentration leidet, die Körpersprache wird unsicher, und das Gespräch läuft einfach nicht rund. Authentizität ist deshalb oft nicht nur ehrlicher, sondern auch wirkungsvoller.

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Die bessere Strategie: die Wahrheit sagen – klug und mit Bedacht formuliert. Zum Beispiel so:

„Ich bin derzeit in einem sehr fokussierten Bewerbungsprozess. Ich bewerbe mich gezielt auf Positionen, bei denen Inhalte, Werte und Arbeitsweise zu mir passen – und Ihre Stelle gehört für mich klar dazu.“

Zwischen Zeigen und Sich-Zeigen

Was diese Frage im Kern sichtbar macht, ist ein größeres gesellschaftliches Thema: Unsere Unsicherheit im Umgang mit Selbstbehauptung. Viele Menschen haben gelernt, nicht zu viel zu wollen, nicht zu viel zu zeigen, sich nicht zu sehr in den Vordergrund zu stellen – gerade ältere Generationen sehen Zurückhaltung als Tugend. Aber im Bewerbungsgespräch ist genau das gefragt: sich zeigen, sich verkaufen. Position beziehen, ohne sich frühzeitig festzulegen. Sicherheit ausstrahlen, obwohl man selbst gerade sucht.

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Wer diesen inneren Spagat erkennt und bewusst damit umgeht, hat schon einen entscheidenden Schritt getan – nicht nur im Gespräch, sondern in der eigenen beruflichen Identitätsentwicklung.

Die Frage ist nicht das Problem – unsere Angst vor ihr ist es

„Haben Sie sich noch woanders beworben?“ – das ist keine simple Fangfrage. Es ist eine Einladung, sich selbst klarer zu positionieren. Wer sie souverän beantwortet, zeigt nicht nur strategisches Denken, sondern auch emotionale Intelligenz. Und genau das ist es, was heute mehr zählt als perfekte Lebensläufe: ein stimmiges Selbstbild, das offen, reflektiert und menschlich ist.

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