Diesen Begriff haben wir alle schon gehört – manchmal aus dem Kollenkreis, manchmal auf Instagram, manchmal aus dem eigenen Mund: toxisch. Früher sprach man von Giften, heute meint das Wort ganze Persönlichkeiten. Kollegen, Vorgesetzte, Freundschaften, ja ganze Unternehmenskulturen werden damit belegt. Und wer einmal als toxisch gilt, steht oft außerhalb jeder Debatte. Die Diagnose kommt in vier Worten: Du bist das Problem.

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Aber was bedeutet das eigentlich – toxisch? Und was sagt die Leichtfertigkeit, mit der wir diesen Begriff heute verwenden, über unsere Arbeitswelt? Und über uns selbst?

Ein Wort mit Wucht, aber wenig Substanz

„Toxisch“ ist kein psychologischer Fachbegriff. Es gibt keine klinische Definition, kein eindeutiges Diagnosekriterium. Die US-amerikanische Psychologin Lillian Glass verwendete ihn 1995 erstmals populärwissenschaftlich – als Beschreibung für Menschen, die andere emotional erschöpfen, manipulieren oder herabsetzen.

Heute reicht oft schon ein schnippischer Ton, eine andere Meinung oder das Beharren auf Hierarchien – und jemand gilt als toxisch. Der Begriff hat sich verselbstständigt. Er wirkt wie ein moralischer Schlagstock in einer Arbeitswelt, in der emotionale Spannungen schnell öffentlich gemacht, aber selten wirklich durchgearbeitet werden.

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Konflikte sind nicht gleich Toxizität

Natürlich gibt es destruktives Verhalten: Mobbing, Herabwürdigung, emotionale Manipulation. Das darf nicht verharmlost werden. Aber nicht jeder Konflikt ist ein Zeichen von Toxizität – manchmal ist er schlicht Ausdruck menschlicher Unterschiedlichkeit.

In jedem Team, in jeder Beziehung, entstehen Spannungen. Erwartungen treffen auf Grenzen, Bedürfnisse auf Machtverhältnisse. Solche Reibungen sind nicht toxisch. Sie sind Teil jeder echten Interaktion. Und sie sagen oft mehr über das ganze System als über die einzelne Person.

Psychologisch betrachtet spielen wir in solchen Konflikten oft Rollen – Täter, Opfer, Retter. Und wechseln ständig dazwischen. Die Transaktionsanalyse spricht hier vom Drama-Dreieck. Wer das versteht, wird vorsichtiger mit vorschnellen Zuschreibungen. Denn kaum jemand ist einfach nur „der Böse“.

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Wenn Beziehung zum Schaden wird

Und trotzdem: Manchmal kippt etwas. Der Ton wird hart, die Fronten verhärten sich. „Toxisch“ ist dann nicht nur ein Etikett, sondern ein Gefühl: Man kommt aus Begegnungen erschöpft, verunsichert, klein zurück. Der emotionale Rückstand ist spürbar.

In einer Zeit, in der psychologische Begriffe alltagstauglich geworden sind, greifen viele zu schnellen Diagnosen. Narzisst, Gaslighter, Soziopath – Begriffe, die früher Therapeuten vorbehalten waren, zirkulieren heute in Bürofluren und Team-Calls.

Doch diese Entwicklung hat ihren Preis: Wo alle schon wissen, was der andere ist, fehlt oft der Wille zum Gespräch. Empathie wird durch Distanz ersetzt. Und wer sich als Opfer eines toxischen Systems versteht, muss nicht mehr zuhören – sondern kündigt. Innerlich. Oder wirklich.

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Organisationen sind gefordert – aber auch wir selbst

Klar ist: Es braucht Strukturen, die Raum für ehrliche Auseinandersetzung bieten. Psychologische Sicherheit, Feedbackräume, Supervision. Aber genauso wichtig ist die Bereitschaft jedes Einzelnen, sich selbst zu hinterfragen.

Wie gut können wir Kritik aushalten? Wie oft sprechen wir aus dem Affekt? Wie schnell bewerten wir – und wie selten hören wir wirklich zu?

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Zwischen Selbstfürsorge und Selbstüberhöhung

Die Arbeitswelt hat dazugelernt: Achtsamkeit, mentale Gesundheit, emotionale Intelligenz – all das wird heute großgeschrieben. Das ist richtig und wichtig. Aber wo das Bedürfnis nach Schutz zur ultimativen Richtschnur wird, wächst auch die Gefahr, jede Form von Reibung als Angriff zu erleben.

Selbstfürsorge ist notwendig – solange sie nicht zur Selbstüberhöhung wird. Es braucht die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten: Menschen sind widersprüchlich, schwierig, verletzend – und dennoch wertvoll.

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Was hilft im Umgang mit schwierigen Menschen?

Nicht jede schwierige Person ist gleich toxisch – und nicht jede toxische Dynamik bleibt es für immer. Aber was tun, wenn der Arbeitsalltag sich immer wieder an derselben Stelle entzündet?

Ein erster Schritt ist oft die Selbstbeobachtung. Was passiert eigentlich in mir, wenn ich mit dieser Person zu tun habe? Werde ich verletzt – oder fühle ich mich vielleicht einfach überfordert? Werde ich an eigene Unsicherheiten erinnert?

Grenzen zu setzen heißt nicht, sich zu verhärten. Es heißt, sich selbst ernst zu nehmen – ohne den anderen abzuwerten. Manchmal reicht ein einfacher Satz: „Ich merke, dass mich das trifft.“ Das ist nicht weich. Das ist ehrlich. Und es öffnet einen Raum, in dem wieder zugehört werden kann.

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Nicht immer liegt es nur an der einen Person. Manche Kollegen wirken laut, kontrollierend oder abweisend – und ziehen damit schnell den Unmut anderer auf sich. Doch hinter solchem Verhalten steckt oft mehr: Überforderung, Angst, oder das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden. Das macht es nicht besser – aber nachvollziehbarer. Und wer das versteht, kann klar bleiben, ohne hart zu werden.

Und manchmal braucht es den Mut zur Konsequenz. Wenn Gespräche nichts verändern, wenn Grenzen nicht respektiert werden – dann darf man sich fragen: Was halte ich aus – und warum? Nicht jede Beziehung lässt sich retten. Aber jede Erfahrung macht stärker, wachsamer.

Konfliktkultur statt Cancelkultur

Der inflationäre Gebrauch des Begriffs „toxisch“ zeigt, wie groß das Bedürfnis nach Orientierung, Schutz und psychischer Integrität in der Arbeitswelt geworden ist. Doch echte Konfliktfähigkeit entsteht nicht durch Etiketten. Sondern durch Dialog, durch Reflexion.

Hand aufs Herz: Wir sind doch alle ein bisschen schwierig. Vielleicht liegt genau darin die Chance zur Entwicklung – persönlich und als Team. Nicht, indem wir uns gegenseitig in Schubladen stecken. Sondern indem wir lernen, miteinander zu ringen.

 

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