Die Welt durch eine rosarote Brille sehen, ganz nach dem Motto von Pippi Langstrumpf: „Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.“ Positiv bleiben, das Beste aus jeder Situation machen, klingt wie der perfekte Plan für ein glückliches Leben, oder? Doch was passiert, wenn wir dabei die Schattenseiten einfach ausblenden? Genau hier beginnt toxische Positivität: Eine erzwungene Fröhlichkeit, die auf Dauer mehr schadet als hilft.
Inhalt:
1. Definition: Was bedeutet toxische Positivität?
2. Die Kehrseite der Positivität
3. Ursachen für toxische Positivität
4. Typische Beispiele für toxische Positivität
5. Wie toxische Positivität schadet
6. Auswirkungen auf andere Menschen
7. Toxische Positivität am Arbeitsplatz
8. Strategien zur Vermeidung
9. Balance statt toxischem Optimismus
Was ist toxische Positivität?
Mit der Beförderung klappt es nicht. Deine Ehe bricht auseinander. Oder du bist unglücklich im Job. Aber Kollegen und Freunde schwafeln immer wieder etwas von „alles passiert aus einem Grund“?
Es stimmt: Positives Denken hat viele Vorteile. So vertritt Michelle Gielan, Journalistin, Glücksforscherin und Autorin zum Thema „Positive Psychologie“, die Ansicht, dass optimistische Menschen es in den meisten Fällen leichter hätten, eine neue Stelle zu finden. Und auch sonst herrscht Einigkeit darüber, dass ein positives Mindset das manchmal Bittere im Leben erträglicher macht.
Die Dosis aber wird auch in diesem Fall das Gift machen. Denn zu viel blinder Optimismus kann schaden und gefährlich werden, wenn er unangebracht ist, schwierige Gefühle überschattet und dazu beiträgt, Niederlagen auch mal zu akzeptieren und die traurigen Dinge des Lebens zu verdrängen, um den Schmerz nicht spüren zu müssen.
Kurz: Sobald positives Denken Druck erzeugt, ist von toxischer Positivität die Rede.
Die Kehrseite der Positivität: Was hilft – und was hemmt
Kollegen und Führungskräfte, aber auch Familie, Freunde und Bekannte benutzen im Alltag Phrasen, die eigentlich „gut gemeint“ sind, oft aber ihre eigene Hilflosigkeit und Überforderung oder manchmal auch ihre Ignoranz spiegeln. Weil sie unangenehme Gefühle, die du gerade erlebst, selbst schlecht aushalten, werden sie es deshalb mit übertriebener Positivität versuchen, um Unangenehmes zwanghaft in Gutes zu verwandeln.
Keine Frage: Auch wir selbst nutzen diese Phrasen, wenn wir Menschen leiden sehen und den Schmerz nicht aushalten. Ob sie in der Situation jedoch hilfreich sind, ist fraglich.
Was wir stattdessen tun können, ist, dem anderen ein offenes Ohr zu schenken, Herausforderungen gemeinsam aus- und durchzuhalten, wenn sie kaum zu ertragen sind, und aufmerksam nachzufragen, wie wir helfen können. Denn kluge Ratschläge sind nicht immer das, was wir brauchen, um uns gehört zu fühlen. Sie können uns sogar hemmen und dazu führen, dass wir uns verschließen, weil wir uns mit unserem Problem unverstanden fühlen.
Die Ursachen für toxische Positivität
Toxische Positivität entsteht meist aus einem gesellschaftlichen Druck heraus, ständig optimistisch und vor allem leistungsfähig zu sein. In vielen Kulturen wird positives Denken als ideal dargestellt, während negative Emotionen als Schwäche gelten. Dies führt dazu, dass Menschen ihre negativen Gefühle unterdrücken, um gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen oder nicht als negativ wahrgenommen zu werden.
Auch soziale Medien verstärken diesen Druck, da dort oft nur die positiven Aspekte des Lebens gezeigt werden – die Schokoladenseite. Viele Menschen fühlen sich daher gezwungen, stets glücklich und optimistisch zu wirken, um diesem unrealistischen Idealbild zu entsprechen.
Eine aktuelle Studie von Madeline E. Feltner (2023) zeigte, dass toxische Positivität insbesondere in sozialen Medien negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung und das Stigma psychischer Gesundheit haben kann. Der Druck, stets positive Emotionen zu präsentieren, führt oft dazu, dass Menschen ihre Probleme verbergen, was wiederum dazu beiträgt, dass Betroffene seltener Unterstützung suchen und sich isoliert fühlen. Diese Studie verdeutlicht die Wichtigkeit, eine authentische emotionale Kultur zu fördern, die auch Raum für schwierige Gefühle lässt.
Beispiele: Wie zeigt sich toxische Positivität?
Diese 8 typischen Sätze deuten auf toxische Positivität hin:
„Good vibes only.“Eine Trendphrase, die in den letzten Jahren um die Welt ging und es sogar auf T-Shirts, Tassen und Social-Media-Profile geschafft hat. Klingt auch irgendwie nice, oder?Aber: Psychologe und Speaker Konstantin Lukin sieht diese Art des Denkens kritisch. Es sei ein Versuch, jegliche Dinge aus den Gedanken zu verbannen, die Trigger für schwierige Emotionen sein könnten. Dabei sei es schädlich für uns, etwas, was nur natürlich ist, zu unterdrücken, weil die Verdrängung der unangenehmen Gefühle sogar das genaue Gegenteil bewirke. Wir fühlten uns danach möglicherweise noch niedergeschlagener.
„Andere haben es viel schlimmer als du!“Relativierungen mögen auf den ersten Blick hilfreich erscheinen. Sie werden aber unseren eigenen Schmerz nicht ungeschehen machen, auch wenn wir aus vermeintlich logischen Gründen zunächst glauben, dass ein Vergleich das eigene Problem kleiner erscheinen lässt. Der Hinweis, dass es andere doch viel mieser erwischt hätte, kann für einen kurzen Moment trösten. Das war es aber auch schon.
„Hör doch einfach auf, über dieses Problem nachzudenken.“Wenn es so simpel wäre, wie es klingt, hätten wir einige Probleme in unserem Leben gelöst. Einfach „aufzuhören“ über etwas nachzudenken? Das suggeriert, dass wir einen An- und Ausschaltknopf im Gehirn hätten, den wir beliebig bedienen können. Tatsächlich sind wir aber aus rein kognitiver Sicht nicht in der Lage, mentale Prozesse aus dem Nichts umzustrukturieren. Es braucht viel Kraft und Arbeit, bis wir einen Punkt erreichen, der es uns ermöglicht, mit dem Grübeln aufzuhören.
„Erwarte nichts. So wirst du weniger leiden.“Ob berufliche Ziele oder private Herausforderungen: Wir alle haben Träume. Und mit diesen Träumen gehen Erwartungen einher. Erwartungen gar nicht erst zu haben, entspricht schlicht und ergreifend nicht unserem Wesen – und es ist auch in Ordnung, diese Erwartungen zu haben und dennoch enttäuscht zu werden. Zwanghaft zu versuchen, Erwartungen zu unterdrücken, ist lediglich der Versuch, Enttäuschungen zu vermeiden.
„Aufgeben? Das ist doch keine Lösung/Option!“Doch – auch das Aufgeben ist eine realistische Option für jemanden, der andere Ziele hat als wir selbst, anders zum Thema „Scheitern“ steht und vielleicht sogar davon überzeugt ist, dass die Akzeptanz einer Niederlage Stärke beweist. Andere unter Druck zu setzen, um sie bloß nicht aufgeben zu sehen, kann manchmal motivierend wirken – und manchmal komplett nach hinten losgehen, wenn der Motivationsversuch toxisch wird.
„Denke einfach an etwas Gutes!“Der offensichtlichste Beweis für toxische Positivität ist, andere bewusst dazu bringen zu wollen, jegliche negativen Gedanken im Keim zu ersticken und eitel Sonnenschein vorzuspielen. Aber vorgetäuschte Harmonie kann besonders giftig sein, weil sie es schafft, Konflikte gar nicht erst sichtbar werden zu lassen.
„Sei doch dankbar. Mich hat es damals schlimmer erwischt.“Schmerzempfinden ist individuell. Das, was für den einen unerträglich ist, mag dem anderen wie eine Bagatelle vorkommen. Wir sollten jedoch im Hinterkopf behalten, dass wir nie wissen, welches Leid andere tatsächlich beschäftigt und welche finanziellen, sozialen oder psychischen Folgen ein Ereignis für sie haben kann.
„Was dich nicht umbringt, macht dich -“Stärker? Ja, wir alle kennen den Satz zur Genüge. Und es stimmt, dass schwierige Erlebnisse unsere Resilienz fördern können. Sie müssen es aber nicht – und hier liegt auch das Problem. Der verzweifelte Aufmunterungsversuch mag vielleicht gut gemeint sein. Tatsächlich kann Schmerz jedoch zerstörerisch und grausam sein, wenn er etwa Traumata bei Betroffenen hinterlässt.
Weitere Beispielsprüche für toxische Positivität:
„Kopf hoch, das wird schon wieder!“
„Alles passiert aus einem Grund.“
„Alles halb so wild.“
„Jede Krise birgt eine Chance.“
„Was dich nicht umbringt, macht dich härter.“
„Mit dem richtigen Mindset kannst du alles schaffen.“
Solche Sätze klingen zunächst erstmal tröstlich, vermitteln aber das Gefühl, dass negative Emotionen nicht akzeptiert werden und man sich endlich „zusammenreißen“ muss.
Wie toxische Positivität schadet
Wer ständig nur das Gute sehen will, drückt unangenehme Gefühle weg – wie Trauer, Wut oder Angst. Doch diese Gefühle sind genauso Teil unseres Lebens wie Freude und Glück. Toxische Positivität führt dazu, dass wir Probleme verdrängen, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie zu bewältigen. Indem wir uns selbst oder anderen einreden, dass alles gut ist, ignorieren wir oft die wahren Bedürfnisse und Gefühle, die eigentlich verarbeitet werden müssten. Das kann langfristig zu einem erhöhten Stresslevel, innerer Einsamkeit und sogar zu Angststörungen oder Depressionen führen.
Wie wirkt sich toxische Positivität auf andere Menschen aus?
Das Problem mit der toxischen Positivität zeigt sich auch im Umgang mit anderen. Ein gut gemeintes „Kopf hoch, das wird schon wieder!“ kann bei jemandem, der wirklich leidet, das Gefühl verstärken, nicht ernst genommen zu werden.
Statt Trost spendet toxische Positivität Druck: Man muss happy sein, alles andere ist nicht erlaubt. Doch der Versuch, immer glücklich zu sein, endet oft in Enttäuschung und dem bedrückendem Gefühl, versagt zu haben. Menschen fühlen sich unverstanden und isoliert, wenn ihre negativen Gefühle nicht anerkannt werden dürfen.
Menschen, die solche Ratschläge inflationär weitertragen und sie auch noch als hilfreich empfinden, neigen zudem dazu, diesen Ansatz immer wieder zu verwenden – auch bei anderen. So entsteht ein Teufelskreis, der toxische Positivität weiter verstärkt und legitimiert.
Wie zeigt sich toxische Positivität am Arbeitsplatz?
Toxische Positivität kann auch am Arbeitsplatz weitreichende Folgen haben – sowohl für Mitarbeiter als auch für Führungskräfte und das gesamte Unternehmen.
Für Mitarbeiter: Wenn Mitarbeiter ständig dazu angehalten werden, immer positiv zu bleiben und Probleme nicht direkt anzusprechen, führt das eher zu Frustration und Demotivation. Negative Gefühle werden unterdrückt – der Stresslevel steigert und Burnout sind die Folge. Die Sorgen und Herausforderungen der Mitarbeiter werden nicht ernst genommen – das Vertrauen in das Unternehmen und die Führung sinkt langfristig.
Für Führungskräfte: Führungskräfte, die toxische Positivität fördern, sorgen unbewusst dafür, das Probleme unter den Teppich gekehrt werden. Wichtige Herausforderungen und Probleme werden nicht offen angesprochen, was zwangsläufig die Leistung des Teams und die auch Qualität der Entscheidungen beeinträchtigt. Außerdem stehen Führungskräfte selbst unter immensem Druck, ständig ein optimistisches Bild zeichnen zu müssen – das macht es schwer, authentisch zu bleiben und Fehler zuzugeben.
Für das Unternehmen: Ein Unternehmen, das eine solche Kultur auch noch fördert, stellt sich selbst ein Bein. Probleme und Konflikte werden nicht offen angesprochen, was die Innovationskraft und Problemlösungsfähigkeit beeinträchtigt. Mitarbeiter fühlen sich nicht gehört, was das Vertrauen und das allgemeine Wohlbefinden senkt. Das Ergebnis: hohe Fluktuationsrate und sinkende Produktivität. Zudem entstehen toxische Arbeitsbeziehungen, geprägt von emotionaler Distanz und Oberflächlichkeit – echte Verbundenheit und Vertrauen bleiben auf der Strecke.
Strategien zur Vermeidung von toxischer Positivität
Um toxische Positivität bestmöglich zu vermeiden, sollte man darauf achten, eine gesunde Balance zwischen Optimismus und der Akzeptanz negativer Gefühle zu finden. Hier sind einige Strategien, die helfen können:
- Offene Kommunikation fördern: Sprich ehrlich und offen über Herausforderungen und schwierige Emotionen. Anstatt immer nach einer positiven Antwort zu suchen, ist es hilfreich, einfach zuzuhören und die Gefühle des anderen anzunehmen. Manchmal ist das Beste, was du tun kannst, da zu sein und zuzuhören, ohne sofort eine Lösung anzubieten.
- Realistische Erwartungen setzen: Niemand fühlt sich immer gut, und das ist völlig in Ordnung. Negative Emotionen gehören zum Leben dazu, und es ist wichtig, ihnen Raum zu geben. Erlaube dir selbst und anderen, auch mal enttäuscht, traurig oder frustriert zu sein, ohne den Druck, diese Gefühle sofort ins Positive zu kehren.
- Echte Unterstützung bieten: Statt nur aufmunternde Floskeln wie „Das wird schon wieder!“ zu äußern, zeige echtes Interesse. Frage nach, wie du unterstützen kannst, und höre aktiv zu. Das gibt deinem Gegenüber das Gefühl, wirklich ernst genommen zu werden und Raum für echte Emotionen zu haben.
Balance statt toxischem Optimismus: Warum wir Raum für Gefühle brauchen
Positive Psychologie und toxische Positivität könnten nicht unterschiedlicher sein. Während die positive Psychologie uns ermutigt, Herausforderungen anzunehmen und das Beste aus schwierigen Situationen zu machen, verleugnet toxische Positivität negative Gefühle. Das führt zu im Umkehrschluss zu unnötigem Druck und emotionaler Überforderung.
Stattdessen brauchen wir eine Balance zwischen Optimismus und der Akzeptanz negativer Emotionen. Wahre Positivität bedeutet, alle Gefühle grundlegend anzuerkennen – die guten genauso wie die schwierigen. Nur so können wir authentisch sein und mit Herausforderungen des Alltags besser umgehen.
Empathie ist dabei entscheidend: Anstatt oberflächliche Ratschläge zu geben, sollten wir Raum für echte Emotionen schaffen, aktiv zuhören und Verständnis zeigen. Indem wir auch negativen Gefühlen Raum geben, schaffen wir Verbundenheit und die Basis für ein erfülltes Leben.
Übrigens: Chefs, die zuhören, führen besser
Die Studie von Madeline E. Feltner (2023) zeigt, wie toxische Positivität besonders im Umgang mit anderen schaden kann. Empathie und Akzeptanz sind der Schlüssel, um schwierige Zeiten zu meistern und echte, tiefe Verbindungen zu unseren Mitmenschen aufzubauen.