Dein Kollege kündigt – und andere ziehen nach. Ob eine sogenannte Fluktuationsinfektion bei euch vorliegt und was es mit dem Dominoeffekt auf sich hat.
Habt ihr euch schon infiziert? Nicht mit dem Coronavirus, nein. Es geht um „virale“ Kündigungen: Das Phänomen der Fluktuationsinfektion (engl. „turnover contagion), gern auch als Kündigungsvirus bezeichnet, ist ein aktuelles Thema für Unternehmen und Arbeitnehmer. Sobald ein (wichtiger) Mitarbeiter die Kündigung einreicht, gibt es Nachahmungen. Auch andere Beschäftigte entscheiden sich daraufhin, bald die Flinte ins Korn zu werfen.
Visier, ein Unternehmen für Personalanalyse, hat dieses Phänomen in einer international ausgelegten Forschungsstudie untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass der Dominoeffekt vorwiegend in kleineren Teams auftritt: Die Wahrscheinlichkeit ist in solchen Teams um mehr als 12 Prozent höher, dass Beschäftigte ihren Job schmeißen, wenn jemand zuvor gegangen ist.
Wesentliche Unterschiede gäbe es zudem bei den Punkten freiwillige Kündigung und der Kündigung durch den Arbeitgeber. Wenn Mitarbeiter entlassen werden, würden andere Arbeitnehmer dem Bericht nach schneller zur Entscheidung kommen, das Unternehmen freiwillig zu verlassen. Im Schnitt würde es 105 Tage dauern. Wenn Beschäftigte den Job hingegen aus freien Stücken aufgeben, dauere es etwa 135 Tage, bis ein Dominoeffekt eintreten würde.
Warum ahmen wir andere nach?
Ob wir den Job tatsächlich schmeißen, weil wir anderen nachmachen wollen – darüber sind sich Experten noch nicht einig. Das Motiv wird in Frage gestellt, etwa vom Psychologen Armin Trost. Der Effekt sei seiner Ansicht nach eher auf andere Faktoren zurückzuführen. Wenn beispielsweise der Vorgesetzte nicht in Ordnung wäre, sei dies ein guter Grund für dafür, dass Beschäftigte gehen würden. Aber auch schlechte Arbeitskonditionen könnten das eigentliche Motiv sein und nicht die Tatsache, dass andere das Unternehmen verlassen.
Dr. Andrea Derler (Visier) findet hingegen, dass der Effekt der Nachahmungen vorliegt, wenn wir durch die Kündigung von Kollegen zur Reflexion der eigenen Entscheidungen und des Arbeitsplatzes angeregt werden. Die Beschäftigungssituation, so Derler, würde neu bewertet werden. Und deshalb spielt es durchaus eine Rolle, wie die Entscheidung unserer Kollegen ausfällt.
Wichtig zu erwähnen ist außerdem, dass die Personalexpertin die Arbeitnehmerkündigung als kein „isoliertes Ereignis“ sieht. Andere Kollegen wären ebenfalls davon betroffen, wenn jemand – in einem sozialen Rahmen, wie er beim Arbeitsplatz vorliegt – eine solche Entscheidung treffen würde. Es ginge um die Gedankengänge und Verhaltensweisen dieser Menschen, die das Unternehmen verlassen und damit möglicherweise auch bei anderen etwas triggern.
Je näher wir uns stehen, desto größer die Wirkung
Besonders jüngere Arbeitnehmern tendieren ohnehin dazu, einen Jobwechsel vorzunehmen. Wie der Work Trend Index Jahresbericht von Microsoft zeigt, sind es laut Untersuchung etwa 52 Prozent der Generation Y und Z, die einen Wechsel des Arbeitsplatzes erwägen.
Microsoft betont zudem, dass der jungen Generation vor allem die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz wichtig seien. Das wiederum führt zum Gedanken, dass wir uns eher vom Kündigungsvirus anstecken lassen, wenn jemand kündigt, der uns wichtig ist. Die Vermutung, dass die Fluktuationsinfektion mit größerer Wahrscheinlichkeit auftritt, wenn Kollegen gehen, die uns sympathisch sind, liegt deshalb nahe. Schließlich geht damit beispielsweise ein wichtiger Faktor verloren, der uns nach der Pandemie wieder zurück in die Büros holen sollte – und zwar der Faktor Freundschaft/soziale Bindungen am Arbeitsplatz, mit dem sich junge Menschen stark identifizieren.
Chaosstimmung nach Kündigungsinfektion: So sollten Führungskräfte reagieren
Verlassen Mitarbeiter das Unternehmen, kann es zu Chaos und Unsicherheit innerhalb des Teams kommen. Das „soziale Gefüge“ erleidet einen Bruch. Die Verantwortlichkeiten müssen neu aufgeteilt werden, aber manchmal bleibt die Neuausrichtung auf der Strecke. Jetzt kann es zu Reibereien kommen. Die Aufgaben gehen zu Lasten des noch vorhandenen Personals, was in Zeiten des Personalmangels eine große Belastung bedeuten kann.
Wenn es nach Fluktuationsinfektion riecht und Mitarbeiter gehen wollen, bleibt Arbeitgebern nur wenig Zeit, um zu reagieren und massenhafte Kündigungen zu vermeiden: Jetzt heißt es,
- Wertschätzung zeigen,
- Sicherheit vermitteln, Aufgabenverteilung angehen und
- Bleibegespräche führen, um gute Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass sie ihre Entscheidung überdenken.
Tipp: Achte als Arbeitgeber auf spezielle Anzeichen, die auf eine Kündigung hindeuten. Dass deine Beschäftigten sich mit dem Kündigungsvirus infiziert haben, ist zum Beispiel wahrscheinlich, wenn sie weniger produktiv arbeiten und nur das Nötigste erledigen. Wenn sie sich auf keine weiteren Verpflichtungen einlassen, die beispielsweise mit der Planung des nächsten halben Jahres zu tun haben, könnte das ein Anzeichen für eine baldige Kündigung sein.
Kündigungen nicht negativ bewerten
Die Reaktion von Vorgesetzten, die einige Kündigungen erdulden müssen, kann ebenfalls Einfluss auf die Entscheidung der anderen Beschäftigten nehmen. Werden ehemalige Mitarbeiter beispielsweise negativ dargestellt, weil sie gekündigt haben, können Arbeitnehmer gemischte Gefühle bekommen. Schließlich stehen sich Kollegen untereinander oft näher als dem eigenen Boss – und es würde sich wie Verrat anfühlen, die Negativität der Führungskraft jetzt zu unterstützen.
Besser: Arbeitgeber sollten einen gesunden Umgang mit der Kündigungsthematik finden, um dem Team als gutes Beispiel vorangehen zu können und Zusammenhalt zu demonstrieren. Liegengebliebene Aufgaben, die von Ex-Arbeitnehmern erledigt werden sollten, gehen jetzt etwa in die Verantwortung von anderen Beschäftigten – und es ergibt sich die Chance für andere, aufzusteigen oder eine Schlüsselfunktion einzunehmen. Diese Punkte sollten betont werden.
Präventivmaßnahmen können Kündigungsvirus verhindern
Um es gar nicht erst zu einer Fluktuationsinfektion kommen zu lassen, hilft es, gezielte Maßnahmen zu ergreifen, um die Mitarbeiterzufriedenheit insgesamt zu steigern. Arbeitgeber bangen vor allem um ihre guten Mitarbeiter, die wichtige Qualifikationen mitbringen oder sich besonders bewährt haben und unverzichtbar geworden sind.
Regelmäßige Feedbackgespräche sowie Gespräche über die generelle Arbeitszufriedenheit sind ein wichtiger Schritt, um vorbeugend zu handeln und Schwachpunkte im Unternehmen rechtzeitig zu beheben. Allen voran ist die Etablierung einer gesunden Unternehmenskultur jetzt besonders wichtig: Können Beschäftigte sich mit der Unternehmenskultur identifizieren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie standhaft bleiben und sich weniger von den Entscheidungen anderer beeinflussen lassen, wenn sie wissen, dass ihre Werte gelebt und respektiert werden.
Reflexion: Hast du dich auch angesteckt?
Du bist selbst betroffen und merkst, dass die Kündigung deiner Kollegen dich „infiziert“ hat? Die Stimmung von Mitarbeitern, die kündigen, weil sie beispielsweise Aussicht auf einen kompetenteren Arbeitgeber haben, kann besonders ansteckend sein: Es klingt alles so verlockend – und auch du spielst jetzt mit dem Gedanken, einen Neubeginn zu wagen.
Achtung: Handle mit Bedacht und lass dich nicht von einer Stimmung verführen. Folgende Fragen helfen dir dabei, herauszufinden, ob du bleiben oder gehen möchtest:
- Arbeitskultur: Passen Werte und Normen zu deinen Vorstellungen?
- Lohn: Erhältst du eine angemessene, faire Bezahlung für deine Arbeit?
- Wertschätzung: Spürst du, dass dein Boss deine Arbeit zu schätzen weiß?
- Spaß am Job: Gehst du gern zur Arbeit?
- Work-Life-Balance: Kannst du Arbeit und Privatleben gut vereinen?
Unser Tipp: Entscheide dich unabhängig von den Entscheidungen deiner Kollegen, auch wenn sie dir wichtig sind und du spürst, wie die Stimmung dich ansteckt. Am Ende kommt es auf deine individuelle Situation und deine persönliche Zufriedenheit mit deinem Arbeitsplatz und deinem Arbeitgeber an.
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