Die Angst, die eigene Familie nicht mehr ernähren zu können, Statusverlust, große Fragezeichen: Ein Jobverlust belastet. Das Geld fehlt. Die Perspektiven fehlen – und oft gehen persönliche und soziale Identität verloren. Ein Teufelskreis.

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Identität und Stigma: Wer sind wir, wenn wir nicht arbeiten?

Wenn auf dem Bankkonto Leere herrscht, du das Auto verkaufst oder darüber nachdenkst, ob du dir das Markenbrot leisten kannst, hat sie auch dich schon getroffen: die Arbeitslosigkeit.

Ob Akademiker oder Arbeiter: In einer Zeit, in der das eigene Selbst – die Identität – über den Job definiert wird, stürzt der Jobverlust uns in eine Identitätskrise. Geht der Job und damit der soziale Status verloren, leidet das Selbstwertgefühl. Dass Identität heute über Arbeit definiert wird, ist nicht ganz unproblematisch. Bereits 1963 kam Soziologe Ervin Goffman mit seinem Identitätskonzept zum Schluss, dass die Stigmatisierung von Arbeitslosen automatisch dazu führt, sie aus der Gesellschaft auszuschließen.

Gehen wir nach neoliberalen Prinzipien, findet die Identitätsbildung heute verstärkt über die Arbeit statt. Wir müssen in vorgegebene Rollenbilder passen. Fehlt uns ein Job, haben wir demnach auch keine Identität.

Globale Arbeitsmarktunsicherheit belastet die Psyche

Es ist also nicht nur das fehlende Geld, welches psychisch belastet. Die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage ist nur einer der Stressfaktoren. Denn viele Menschen erleben während der Arbeitslosigkeit eine Krise, in der sie nicht nur ihren Jobverlust betrauern, sondern auch das Gefühl haben, sich selbst zu verlieren.

Die Herausforderungen:

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  • Viele definieren sich über die eigene Arbeit, erleben Sicherheit, haben eine Tagesstruktur, eine Beschäftigung. Der Verlust der persönlichen und sozialen Identität führt häufig zu Depressionen, Angstgefühlen und Unzufriedenheit – das zeigt eine psychologische Analyse der Universität Erlangen-Nürnberg unter der Leitung von Andrea Zechmann, Klaus Moser und Karsten Paul.
  • Die Erfahrung zeigt, dass Stigmatisierte häufig mit Schamgefühlen, aber auch mit irrationaler Schuld zu kämpfen haben. Sie haben das Gefühl, der Norm nicht zu entsprechen, was zu sozialer Isolation führen kann.
  • Eine Besserung scheint noch nicht in Sicht, auch wenn Fachkräfte gesucht werden. Die allgemeine globale Arbeitsmarktunsicherheit als Resultat der Pandemie, der Energiekrise und der Kriegszeit zeigt ihre Wirkung: Während der Arbeitsmarkt sich zunächst von der einen Krise zu erholen scheint, klopft die nächste bereits an der Tür – und das verunsichert. Die Unterbrechung von Lieferketten führt zu Kurzarbeit und betriebsbedingten Kündigungen.

Studie zeigt: In Alltagssituationen haben Arbeitslose es schwerer

Arbeitslosigkeit konnte früher jeden treffen; sie kann es heute noch. Die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt, welche die Welt während einer Krisenzeit erlebt, verstärkt die unsichere Atmosphäre. Sie wird von Ängsten und Vorurteilen geprägt.

Eine Studie, die 2019 für das ‚Journal for Labour Market Research‘ veröffentlicht worden ist, bestätigt die Stigmatisierung, von denen Arbeitslose betroffen sind. Dass die eigene Situation am Selbstwertgefühl nagen kann, wird von folgenden Ergebnissen untermauert:

  • Fast 90 Prozent der Studienteilnehmer haben angegeben, dass sie glaubten, Menschen hätten unausgesprochene Vorurteile gegenüber Arbeitslosen.
  • Etwa 86 Prozent seien sich darüber bewusst, dass Arbeitslose es in ihrem Alltag – im Vergleich zu Beschäftigten – nicht so einfach hätten.
  • 77 Prozent der Befragten bestätigten, sich persönlich belastet zu fühlen, wenn sie gerade keinem Job nachgehen können.
  • Etwa 19 Prozent gaben zudem an, dass sie es nicht einfach finden würden, eine Beziehung zu Menschen zu pflegen, die gerade einen Job hätten.

Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Dass Arbeitslose mit Stigmatisierung und Selbstwertproblematiken kämpfen, ist die eine Sache – die andere ist, dass es immer noch soziale und kulturelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, was ebenfalls problematisch ist.

So beschreibt Professorin Dr. Aliya Rao von der London School of Economics, wie Frauen ihrer Beobachtung nach damit kämpfen, den Balanceakt zwischen einer guten Mutter und einer guten Arbeiterin zu bewältigen.

Frauen, welche persönliche Erfahrungen mit ihr teilten, berichteten teilweise davon, von ihrer Arbeitslosigkeit zu profitieren: Sie durften plötzlich mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen – und ihre Rolle als Hausfrau galt als selbstverständlich. Arbeitslose Männer hätten eher damit zu kämpfen, denn ihre Rolle als Hausmann wäre in der Gesellschaft noch immer nicht ganz angekommen.

Umgekehrt hieße das aber auch: Arbeitslose Männer werden genauso stigmatisiert wie arbeitende Frauen, die eher der klassischen Hausfrauenrolle zugeordnet werden.

Wie entkoppeln wir Beruf von persönlicher Identität, Geschlecht und Co.?

Die eigene Identität vom Beruf abhängig zu machen, weil es die soziale Norm ist, ist gerade in Krisenzeiten ein herber Schlag: Wenn die eigene Arbeitskraft aus wirtschaftlicher Sicht – etwa vorübergehend – nichts mehr „wert“ ist, welchen Wert geben wir uns dann überhaupt?

Es erfordert zugleich sozialpolitische Änderungen. Denken wir einen Schritt weiter, wären folgende Optionen eine geeignete Basis:

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  1. Bedingungsloses Grundeinkommen: Eine Idee, welche bereits länger diskutiert wird, ist das Bedingungslose Grundeinkommen, auch als „Bürgergeld“ bekannt. Der Vorteil wäre die Auszahlung eines regelmäßigen Grundbetrages an jeden Bürger – ohne Gegenleistung, unabhängig von der eigenen wirtschaftlichen Situation. Dies würde der sozialen Stigmatisierung entgegenwirken.

    Nachteile: Möglicherweise finden sich keine Menschen mehr, die einen eher unattraktiven, körperlich harten Job noch freiwillig ausführen. Auch das bisher bestehende Sozialsystem würde in dieser Form nicht mehr existieren.
  2. Bemühungen seitens der Arbeitgeber: Moderne Unternehmen bieten bereits flexible Arbeitsmöglichkeiten an, damit Mütter und Väter gleichermaßen in ihrer Elternrolle aufgehen – ohne zu befürchten, dass sie ins soziale Aus rutschen, weil Väter sich beispielsweise mehr Zeit für ihre Kinder nehmen möchten. Auch hier gibt es jedoch Nachholbedarf. 

Arbeit ist viel – aber nicht alles

Zwar bietet eine gute Position uns Sicherheit und verspricht Prestige. Dennoch gilt: Wir sind nicht nur das, was wir arbeiten. Anstatt die eigene Identität ausschließlich über den Beruf und die Karriere zu formen, hilft es, den Begriff „Identität“ zu splitten und zwischen beruflicher, sozialer und persönlicher Identität zu unterscheiden.

Die letzten Krisenjahre haben gezeigt, dass vor allem

  • die Arbeit am persönlichen Wachstum,
  • psychologische Beratungen und
  • soziale Angebote

hilfreich sein können, die einer Vereinsamung vorbeugen, die mentale Gesundheit stärken und beim Wiedereinstieg ins Berufsleben unterstützen.

Betroffene können sich in Selbstannahme üben und lernen, sich trotz aller Vorurteile als ein wichtiges und bedeutendes Mitglied der Gesellschaft zu erachten. Auch die Suche nach Gleichgesinnten kann hilfreich sein, um das Selbstwertgefühl zu stärken, Ideen auszutauschen und in Kontakt zu bleiben – anstatt in den Rückzug zu gehen.

Tipp: Sorge dafür, dass du ein erfülltes „Leben“ neben dem Job hast. Wer sich in einem Arbeitsverhältnis befindet und einer Identitätskrise vorbeugen möchte, sollte sich auch außerhalb des Berufsumfeldes ein starkes Umfeld aufbauen, das in Krisenzeiten als Auffangnetz dient. Dazu gehören nicht nur soziale Kontakte. Sondern auch Interessen und Beschäftigungen, denen wir unabhängig vom Beruf nachgehen.

Fazit

Je größer die Vorurteile und Ängste gegenüber der Arbeitslosigkeit, desto größer ist die Barriere, die uns und andere daran hindert, neue Perspektiven zu finden. Es gilt, Stigmatisierungen aufzulösen – und einer (krisenbedingten) Arbeitslosigkeit den bitteren Beigeschmack zu nehmen. 

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Merke: Arbeit ist viel, aber nicht unsere ganze Identität.

Bildnachweis: valentinrussanov/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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