Nicht Bewerber, sondern Arbeitgeber stehen unter Zugzwang und müssen sich bewerben, wenn sie Talente für ihr Unternehmen gewinnen wollen.

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Mindestens 308.400 Fachkräfte fehlen 2023 in den MINT-Berufen, aber auch Erzieher, Pfleger, Sozialpädagogen und Mediziner sind „Mangelware“. Die Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) verdeutlichen die Lage am Arbeitsmarkt. Gab es früher noch einen Überfluss an Bewerbern, sind es heute die qualifizierten Bewerber, welche zunehmend die Marktmacht dominieren.

Mit dem Wandel vom Arbeitgebermarkt hin zum Bewerbermarkt findet parallel der Transformationsprozess in Unternehmen statt, in denen New Work Einzug findet: Es kommt zu Umstrukturierungen und Neubesetzungen; Führungskräfte und Mitarbeiter bekommen ihre Differenzen in Sachen Wertvorstellung und Führungskultur zunehmend zu spüren. Und nicht jeder wird die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt meistern können.

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Konservative Betriebe verpassen den Absprung von ihrem rückwärtsgewandten Zug: Noch immer realisieren sie die Bedeutung des Bewerbermarktes nicht – und riskieren damit ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit. Folgende Gründe sprechen dafür, dass es Zeit wird, umzudenken und auch umzusetzen.

Marktmacht bei Arbeitnehmern und Bewerbern: Auf diese Punkte kommt es an

1. Das Personal- und Fachkräftedefizit wird nicht kleiner, sondern größer

Die Generation Babyboomer geht, man spürt es, und verabschiedet sich langsam in ihren wohlverdienten Ruhestand. Der demografische Wandel führt dazu, dass nur wenig Arbeitskräfte nachrücken. Bevölkerungsforscher haben es kommen sehen und auch der Arbeitgeberverband BDA gibt düstere Prognosen. Demnach sollen sich bis 2030 ca. fünf Millionen Erwerbstätige mehr verabschieden als in den Markt strömen.

Damit wird das Problem des Personal- und Fachkräftemangels nicht kleiner, sondern zunehmend größer. Die Not wächst. In vielen Branchen ist qualifiziertes Personal bereits jetzt eine begehrte Rarität, sodass auch Quereinsteiger willkommen sind. Grundsätzlich deutet die Entwicklung darauf hin, dass immer mehr Bewerber und Arbeitnehmer ihre Anforderungen hochschrauben und die Regeln vorgeben – denn Unternehmen haben bereits mit Active Sourcing begonnen, einer Methode, um Jobkandidaten selbst aktiv anzusprechen. Immer mehr Unternehmen entscheiden sich für die Recruiting-Methode „Arbeitgeberbewerbung“: Sie stellen sich selbst vor und bewerben sich bei ihren potenziellen Arbeitnehmern.

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2. Mitarbeiter nehmen ihre körperliche und mentale Gesundheit ernst

Die Attraktivität einer Arbeitgebermarke erhöht sich heute automatisch, wenn die Unternehmenswerte und das gelebte System mit den Vorstellungen der Mitarbeiter übereinstimmen. Vor allem das Thema Gesundheit ist zum zentralen Element geworden, sodass es auch im Interesse eines Unternehmens liegt, gesunde Mitarbeiter zu haben. In Anbetracht der Mehrarbeit, die Angestellte wegen des Personaldefizits immer wieder leisten, sollte dies eine Selbstverständlichkeit sein.

Arbeitnehmer setzen hier zunehmend klare Prioritäten: Sie werden in Zukunft bestimmen, was sie brauchen, um gesunde und glückliche Arbeitskräfte zu sein. Workaholics werden weiterhin existieren, doch die Vermischung von Arbeits- und Privatleben erfordert ein besseres Gesundheitsmanagement. Unternehmen mit entsprechender Ausrichtung kommen vor allem bei jungen Arbeitnehmern, die ihre mentale und körperliche Gesundheit achten, gut an.

3. Flache Hierarchien sind gefragter denn je

Arbeiten auf Augenhöhe, mehr Wertschätzung, keine ausschließliche Führungsdominanz: „Flache Hierarchien“ sollte nicht ausschließlich eine Werbebotschaft sein. Es ist vorauszusehen, dass Arbeitnehmer und Bewerber auch in diesem Bereich einen großen Einfluss nehmen werden und es bereit jetzt tun. Deshalb wird der autokratische Führungsstil immer weiter an Bedeutung verlieren.

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Studien belegen die Entwicklung: Eine StepStone-Untersuchung zeigt, dass Fachkräfte zunehmend einen ethischen (84 Prozent), strategischen (88 Prozent) und transformationalen (94 Prozent) Führungsstil bevorzugen und diese Ansprüche an Vorgesetzte stellen.

4. Autonomie wird bewusst eingefordert

Auch die zunehmend autonome Arbeitsweise von Arbeitnehmern erfordert, dass vor allem Beschäftigte an Entscheidungsprozessen beteiligt sind und eigenständiger festlegen, nach welchen Regeln Arbeit stattzufinden hat. Die Selbstverantwortung von Mitarbeitern wächst, was sie in eine einflussreichere Rolle als zuvor bringt.

Unternehmen mit schlanken Bewerbungsprozessen haben bessere Chancen

Weil Bewerber und Fachkräfte in einigen Branchen schlichtweg fehlen, gilt es, die Marktmacht dieser zu verstehen und auf sie einzugehen. Vor allem der erste Eindruck kann darüber entscheiden, ob potenzielle Mitarbeiter sich für oder gegen ein Unternehmen entscheiden.

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Was gut ankommt, sind schlanke Bewerbungsprozesse. Laut einer aktuellen XING-Umfrage haben Personaler in 37 Prozent der Fälle die Erfahrung gemacht, dass Bewerber, die sich bei einem Unternehmen vorgestellt haben, den Arbeitsvertrag gar nicht erst unterschreiben, sondern abspringen. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, Jobkandidaten doch noch zu binden, zählt deshalb der gesamte Prozess vor der eigentlichen Vertragsunterschrift.

Einige Unternehmen machen es bereits erfolgreich vor: Sie verzichten auf ein Anschreiben, verkürzen den Weg von Bewerbung bis Unterschrift und geben auch Talenten eine Chance, die nicht alle geforderten Hard Skills nachweisen können, jedoch großes Potenzial haben, um sich fehlendes fachliches Know-how in einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt anzueignen.

Die Umfrage zeigt zudem, dass 74 Prozent der größeren Unternehmen (mind. 250 Beschäftigte) prognostizieren, dass Active Sourcing in Zukunft an Bedeutung gewinnt, was die Marktmacht der Bewerber und Arbeitnehmer zusätzlich unterstreicht.

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Nicht alle nutzen ihre Marktmacht

Lange Nächte, in denen Jobsuchende verzweifelt Bewerbungsanschreiben produzieren, um sich bei so vielen Unternehmen wie möglich vorstellen zu können, gehören zwar sukzessive der Vergangenheit an. Dennoch sind sich noch zu wenige Beschäftigte und Bewerber über ihre neue Rolle bewusst, wie das Regionalportal meinestadt.de angibt. Demnach nutzten rund ein Drittel der Arbeitnehmer ihre aktuell vorteilhafte Position, um sich Vorteile zu sichern. Mehr aber nicht.

Unter Wert muss sich ein Jobkandidat längst nicht mehr verkaufen. Dass einige Fachkräfte ihre Marktmacht ungenutzt lassen, deutet zum Beispiel auf eine hohe Jobzufriedenheit hin. Ist dies nicht der Fall, ist möglicherweise die Sorge, keine passende Stelle zu finden, noch tief verankert. Während junge Nachwuchstalente mit einem großen Selbstverständnis in den Arbeitsmarkt strömen und Forderungen stellen, tun sich erfahrenere Generationen, die nur den Arbeitgebermarkt kennen, vermutlich schwer mit ihrer neuen Freiheiten.

Wie können Arbeitnehmer und Bewerber ihre Möglichkeiten besser nutzen?

Die neue Marktmacht ist nicht nur vorteilhaft für Bewerber, sondern kann auch verunsichernd sein: Wie umgehen mit so viel Entscheidungsmacht? Vor allem Arbeitnehmer aus eher konservativen Unternehmen, die sich für einen Job in einem Startup oder in einem strukturell modern aufgestellten Betrieb entscheiden, stehen vor großen Fragezeichen. Ein gutes Onboarding wird die wichtigsten Hürden nehmen. Dennoch stellt sich die Frage: Welche Forderungen sind in Ordnung – und welche nicht?

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Trotz der Entwicklungen und der damit einhergehenden Dominanz der Bewerber und Arbeitnehmer ist die Rollenumkehr eine Herausforderung, die die richtige Balance erfordert. Forderungen, die realistisch sind, etwa eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sollten durchaus zu den eigenen Ansprüchen gehören.

Eine unrealistische Erwartungshaltung (à la „Wunschkonzert“) sollte aber weder von Arbeitgebern noch von Arbeitnehmern eingenommen werden. Wichtig ist vor allem eine klare Kommunikation mit Absprachen, Transparenz und Zuverlässigkeit, die zulässt, Bedürfnisse zu formulieren, ohne sich gegenseitig auf den Schlips zu treten.

Vor allem aber sollten sich Beschäftigte und Bewerber ihrer neuen Macht bewusst werden – und sich nicht unter ihrem Wert verkaufen, indem sie toxische Verhaltensweisen dulden, sich mit einem miesen Lohn zufriedengeben oder Mehrarbeit leisten, ohne anerkannt zu werden. Die Zeiten, in denen ausschließlich Arbeitgeber die Regeln diktieren, neigen sich peu à peu dem Ende zu.

Bild: Jovanmandic/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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