Als Mitarbeiter habe man keine Wahl, das Richtige zu tun, könne aber stets für das Falsche verantwortlich gemacht werden: So führen paratoxische Chefs.

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Das Dilemma der toxischen Paradoxien

Paradoxe Anweisungen geben, die toxischen Druck erzeugen – en voilà: der „paratoxische Boss“ ist geboren. Für Mitarbeiter ein Dilemma: Man habe nicht die Wahl, das Richtige zu tun, so Forscher Dr. Christian Julmi, könne als Mitarbeiter aber immer für das Falsche verantwortlich gemacht werden. Wer sich in einer solch widersprüchlichen und giftigen Situation wiederfindet, hat es vermutlich mit dem „paratoxischen Chef“ zu tun (paradox + toxisch = paratoxisch).

An der staatlichen Fernuniversität Hagen forscht Wirtschaftswissenschaftler Dr. Christian Julmi zum Phänomen der paratoxischen Führung. Das relativ neue Forschungsgebiet zeigt, wie Mitarbeiter eines Unternehmens gezielt verunsichert werden und in einer schwierigen Situation gefangen sind, der sie selten entkommen können, weil der Chef widersprüchliche Anweisungen erteilt.

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Führung sei schon an sich eine paradoxe Hürde, so Julmi. Gute Führungskräfte zeichneten sich dadurch aus, dass diese den Spagat zwischen Nähe und Distanz, Individuum und Gruppe sowie Kontrolle und Vertrauen schafften, so der Forscher. Alle anderen, die es nicht schaffen, können zu toxischen Paradoxien greifen – also zu Botschaften, die Vorgesetzte schützen, Mitarbeiter aber ins offene Messer laufen lassen. Für diese gibt es kein Entkommen. Die Forschung spricht von „Double Binds“ und einem gestörten Kommunikationsmuster. Die Thesen beruhen auf der sogenannten Doppelbindungstheorie.

Was sind toxische Double Binds?

Der Kern von Double Binds: Es ist egal, für welche Lösung man sich entscheidet – sie wird falsch sein.

Beispiele: Ein Kind soll sich im Matsch austoben, aber bloß nicht seine Schuhe dreckig machen. Ein Mitarbeiter soll sich beim Fertigstellen der Präsentation keinen Druck machen, diese aber unbedingt am Ende des Tages beim Chef abliefern. Man solle rechts und zugleich links abbiegen.

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Das gestörte Kommunikationsmuster, welches sich aus solchen Doppelbotschaften ergibt, kann auf Mitarbeiter eine lähmende Wirkung haben und großen Druck erzeugen. Als Beispiel nennt Julmi den verstorbenen Ex-VW-Vorstandsvorsitzenden und seine Art der Führung, von der immer wieder gesagt wird, sie hätte zum Diesel-Gate geführt. Denn Ferdinand Piëch ließ die Feststellung von den damaligen verantwortlichen Ingenieuren, dass ein kostengünstiger Dieselmotor nicht zugleich grün und auch noch schnell sein könne, nicht durchgehen. Die Verantwortlichen sollten die utopischen Anforderungen erfüllen – oder er suche sich neue, die es könnten.

Anzeichen und Formen: Woran ist paratoxische Führung erkennbar?

Betroffene, die es mit einem paratoxischen Boss zu tun haben, spüren es häufig selbst. So ist es beispielsweise möglich, dass ein Vorgesetzter vorgibt, dass „alles in Ordnung“ sei, seine Handlungen aber genau das Gegenteil beweisen. Immer und immer wieder werden Doppelbotschaften gesendet, die verunsichern.

Julmi unterscheidet insgesamt vier Formen der paradoxen und toxischen Führung. Er bezeichnet sie als die „vier U“:

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1. Unvereinbarkeit: Machtbesessener Chef fordert zur Mitsprache auf

Mitarbeiter sollen doch eigene Ideen einbringen: Kommt diese Botschaft von einem Vorgesetzten, der seinen Angestellten eigentlich kein Mitspracherecht gewährt und die Ideen direkt wieder abschmettert, handelt es sich um eine Botschaft mit widersprüchlichem Inhalt. Man solle zum Beispiel die Initiative ergreifen oder selbstständig arbeiten – zugleich aber wird man vom Chef kontrolliert.

Die Aufforderungen sind nicht erfüllbar, wie auch immer Mitarbeiter es drehen und wenden: Sprechen sie mit, machen sie es falsch. Sprechen sie nicht mit, hören sie nicht auf die Aufforderung, man solle sich einbringen – und machen es ebenfalls falsch.

2. Unverfügbarkeit: „Zeig doch mal, wie kreativ du bist!“

Man solle doch einfach mal „spontan“ sein. Wer diese Anweisung gibt, verhindert zugleich, dass man spontan reagiert, denn eine quasi erzwungene Handlung, zu der man direkt aufgefordert wird, kann nicht spontan sein. Auch dass man „innovativ“ oder „kreativ“ denken solle, widerspricht der Natur: Kreativität kommt nicht auf Knopfdruck, aber der Druck, der durch die Aufforderung erzeugt wird, unterbindet sie zugleich.

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3. Uneindeutigkeit: „Du bildest dir wieder etwas ein!“

Doppelbotschaften können auch versendet werden, wenn Handlungen und Inhalte relativ vage bleiben oder formuliert werden. Sie sind also nicht eindeutig und können Mitarbeiter aufgrund des asymmetrischen Verhältnisses – der Chef befindet sich in einer Machtposition, während Mitarbeiter die Geführten sind – in eine Zwickmühle bringen.

Beispiel: Ein Mitarbeiter wird vom Vorgesetzten sexuell belästigt. Spricht dieser die Belästigung an, um die Situation zu klären, könnte der Chef nun Entrüstung zeigen und den Mitarbeiter als „pervers“ bezeichnen, um von sich selbst abzulenken und die Verantwortung für den eigenen Fehler abzuschieben. Schon das Thematisieren einer Handlung, die unangebracht ist, kann Mitarbeiter beschämen und demütigen – obwohl sie das Opfer sind.

4. Unrealisierbarkeit: „Bloß keine Fehler erlauben.“

Menschen machen Fehler – und sie werden zwangsläufig auch im Job passieren. Solche Aufforderungen sind deshalb schier unmöglich realisierbar. Dennoch werden sie erteilt: Ein Mitarbeiter soll es beim nächsten Mal bloß nicht vermasseln. Oder man solle alles geben und Überstunden schieben, um etwas zu perfektionieren, obwohl Mitarbeiter dazu aufgefordert worden sind, Überstunden zu unterlassen, denn diese könnten mit Sanktionen einhergehen. Wird pünktlich Feierabend gemacht oder doch Mehrarbeit geleistet? So oder so: Beides wird verkehrt sein.

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Was sind die Folgen paratoxischer Führung?

Mitarbeiter, die sich als Angestellte in einer abhängigen Situation befinden, auf ihren Lohn oder ihr Gehalt angewiesen sind und den Dienstanweisungen Folge zu leisten haben, enden in einer Sackgasse, wenn sie einen paratoxischen Chef haben. Sie werden unterdrückt und riskieren ihren Arbeitsplatz, wenn sie Widerstand leisten – denn dies könnte als Nicht-Erfüllen oder absichtliches Ablehnen der Anweisungen ausgelegt werden.

Mögliche Folgen: Mitarbeiter werden antriebslos, reagieren verängstigt und entwickeln Gedankenkarusselle, die zu Panikreaktionen führen können. Sie fühlen sich gestresst, weil sie versuchen, den unmöglichen Anforderungen des Chefs irgendwie gerecht zu werden. Emotionale und körperliche Erschöpfung bis hin zum totalen Burnout sind möglich.

Gefährliche Doppelbotschaften: Wie können Unternehmen reagieren?

Manchmal ist es nicht möglich oder zielführend, Vorgesetzte direkt auf das Thema aufmerksam zu machen, wenn diese jegliche Schuld von sich weisen. Doch Unternehmen seien selbst in der Pflicht, ihre Mitarbeiter zu schützen. Es solle beispielsweise möglich sein, dass Angestellte sich Hilfe suchen können, etwa, indem eine Beschwerdestelle eingerichtet wird. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass Opfer von paratoxischen Führungskräften sich nicht hilflos fühlen und die Chance bekommen, auf das Thema aufmerksam zu machen.

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Häufen sich die Beschwerden ohnehin und stellen Unternehmen Auffälligkeiten fest, muss dem nachgegangen werden, wenn es um die Führungskultur im eigenen Betrieb geht. Nicht nur, um Mitarbeiter zu schützen – sondern auch, um als Arbeitgeber potenzielle Schäden von sich abzuwenden. Denn immer häufiger wird die unternehmenseigene Führungskultur als die Wurzel allen Übels identifiziert, wenn Arbeitgeber nicht mehr weiterkommen und Arbeits- und Fachkräfte sich lieber für die Konkurrenz entscheiden.

Chef bleibt uneinsichtig: Was tun, wenn nichts hilft?

Nicht immer wird es Mitarbeitern gelingen, eine Lösung für sich zu finden. Dann bleibt Betroffenen häufig nur die Möglichkeit, sich eine neue Stelle zu suchen. Denn dort verbleiben, wo es ein Ding der Unmöglichkeit ist, eine Wahl zu treffen, die richtig ist, will niemand.

Bild: Arbeits-ABC/KI
Erstpublikation: 15.08.2023

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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