Deutschland bräuchte mehr Überstunden, so Finanzminister Christian Lindner (FDP). Wie viele Stunden schieben wir tatsächlich extra?

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Um die wirtschaftlichen Folgen des Krieges zu regulieren und den Wohlstand Deutschlands zu sichern, hat Finanzminister Christian Lindner im Sommer 2022 für mehr Überstunden statt Kriegssoli in Form von Steuererhöhungen appelliert. Denn Steuererhöhungen, so Lindner, seien lediglich eine Sabotage für die Wirtschaft.

Dem widersprechen viele, unter anderem Prof. Dr. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsförderung (DIW): Durch Überstunden könne man zum Beispiel das Fachkräftedefizit nicht einfach so lösen. Wichtiger sei es, sich auf bestehende Hürden für Erwerbsfähige zu fokussieren, etwa auf die Herausforderungen für Frauen und Mütter, die wegen fehlenden Kita-Angeboten nicht arbeiten könnten.

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Überstunden schaden zudem zusätzlich, denn bereits jetzt sind deutsche Arbeitnehmer aufgrund des Personalmangels überfordert und überlastet, weil sie das Defizit durch Mehrarbeit ausgleichen müssen. Alternative Modelle, die gängige Arbeitszeitmodelle ersetzen sollen, um eine optimale Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen, werden zwar diskutiert, aber an der Realisierung scheitert es in vielen Unternehmen bisher.

Wie viele Überstunden hat Deutschland 2022 extra geschoben?

583 Millionen bezahlte Überstunden hätten Arbeitnehmer hierzulande im Jahr 2022 abgeleistet. Hinzu kommen über 700 Millionen unbezahlte Stunden, die Beschäftigte gestemmt haben. Als Antwort auf eine Nachfrage der Linksfraktion hat die Regierung diese Zahlen veröffentlicht und überschlagen 1,3 Milliarden Überstunden bestätigt.

Immerhin: Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) müsste Deutschland heute im Vergleich weniger Überstunden als in den letzten Arbeitsjahren ableisten, was grundsätzlich für eine positive Entwicklung spricht.

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Trotzdem fühlen sich Arbeitnehmer zunehmend gestresster, weil der Job sich durch die Auflösung von beruflichen und privaten Grenzen immer stärker in den Alltag vieler Berufstätigen drängt. Obwohl der Trend des Work-Life-Blendings von vielen sogar gefeiert wird, hat er den bedeutenden Nachteil, dass es komplizierter wird, den Job auszublenden, um komplett abzuschalten.

Wer ist besonders häufig von Überstunden betroffen?

Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) definiert eine wöchentliche Arbeitszeit, die mehr als 48 Stunden beträgt, als eine „überlange Arbeitszeit“.

Dabei gilt: Je älter wir werden, desto mehr Arbeitsstunden leisten wir laut Destatis ab. Demnach seien vor allem Menschen, die über 55 Jahre alt sind, häufiger von Mehrarbeit betroffen. Über 11 Prozent dieser Altersgruppe arbeiteten wöchentlich mehr als insgesamt 48 Stunden. Unter den Arbeitnehmern, die maximal 24 Jahre alt sind, seien es hingegen knapp 8,8 Prozent.

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Doch nicht nur Arbeitnehmer leisten manchmal mehr Stunden ab, als der Arbeitsvertrag vorsieht. Auch und vor allem Selbstständige sind dafür bekannt, die eine oder andere Stunde länger zu arbeiten. Laut Destatis sei dies gar jeder zweite Selbstständige; an der Zahl ca. 49,9 Prozent.

Arbeitgeber in der Verantwortung – aber auch Arbeitnehmer setzen sich unter Druck

Es mag überraschen, doch nicht immer sind Unternehmen die Sündenböcke, wenn es um das Ableisten von zusätzlichen Arbeitsstunden geht. Fühlen sich Arbeitnehmer durch ihr Umfeld unter Druck gesetzt oder leiden sie unter Versagensängsten, kann dies ebenso dazu beitragen, Ängste durch das Ableisten von zusätzlichen Arbeitsstunden kompensieren zu wollen.

Dennoch ist es die Verantwortung von Arbeitgebern, Arbeitnehmer nach Hause zu schicken, wenn sie es in Eigenregie mit ihren Stunden übertreiben. Vor allem bei konkretem Verdacht einer potenziellen Gefährdung für Psyche oder Gesundheit müssen Arbeitgeber selbst aktiv werden und klare Grenzen aufzeigen, um gemeinsam mit Betroffenen gesündere Wege zu finden, ihre Arbeit zu erledigen.

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Welche Auswirkungen haben Überstunden?

Ob freiwillig oder weil der Arbeitgeber sie verlangt, Überstunden mögen für Unternehmen vielleicht wichtig sein, doch für Beschäftigte haben sie vor allem Nachteile:

1. Risiko für Arbeits- und Wegeunfälle erhöht

Wer Überstunden schieben muss und deshalb wenig Zeit findet, um sich zu regenerieren, leidet unter Konzentrationsproblemen. Je mehr wir arbeiten, desto kleiner unsere Aufmerksamkeitsspanne. Fehlende Erholungszeiten erhöhen deshalb die Wahrscheinlichkeit für Unfälle, die auf dem Weg zur Arbeit, im Job oder auf dem Rückweg passieren. Oft ist es deshalb nur noch eine Frage der Zeit, bis ein unaufmerksamer Geist die Treppenstufe übersieht, in einen Sekundenschlaf am Steuer verfällt oder ein Gerät nicht richtig bedient.

Müssen Arbeitnehmer Überstunden ableisten, gefährden Unternehmen damit nicht nur den betroffenen Mitarbeiter, sondern auch alle Arbeitskräfte in direkter Umgebung, die unfreiwillig zum Unfallopfer werden können.

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2. Gesundheitliche Folgen lassen nicht lange auf sich warten

Kopfschmerzen, Rückenprobleme und ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte durch übermäßigen Stress sind nur einige der vielen physischen Resultate von zu vielen Überstunden. Wer ständig zu viel arbeitet, leidet deshalb langfristig unter gesundheitlichen Folgen, weil unser Körper nicht funktioniert, ohne seine Batterien aufladen zu können.

Psychische Probleme, die wegen einer hohen Arbeitsbelastung entstehen, schränken Arbeitnehmer ebenfalls ein. Schlafstörungen, Burnout, Ängste, chronische Depressionen und Antriebslosigkeit kommen als Folge oft vor. Vor allem die mentalen Folgen werden jedoch unterschätzt, weil sie für Arbeitgeber nicht zwangsläufig sichtbar sind oder von Arbeitnehmern, die auf ihren Job angewiesen sind, überspielt werden.

3. Mangelhafte Work-Life-Balance

Mehr Zeit für die Familie, mehr Zeit für private Interessen und ein Lebensstil, der sich nicht nach dem Job richtet – so stellen sich viele Arbeitnehmer hierzulande ihr Leben vor. Eine Balance zwischen Beruf und Privatleben zu finden, ist aber nach wie vor eine große und schwierige Aufgabe.

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Überstunden tragen nicht gerade positiv dazu bei. Sie stehen einer guten Work-Life-Balance im Weg. Wer sich mehr mit dem Beruf als mit Freunden, Familie und Partner beschäftigt, fühlt sich oft unausgeglichener, einsamer und frustrierter.

4. Abfall der Produktivität und Leistung

Überarbeitete Mitarbeiter können nicht 100 Prozent Leistung abrufen, was zur Folge hat, dass sie weniger produktiv arbeiten. Um die Produktivität der Mitarbeiter zu erhöhen und die Leistungsfähigkeit sicherstellen zu können, ist die Reduzierung der Überstunden deshalb zwingend notwendig, weil die Extra-Stunden früher oder später zu einem Leistungsabfall führen und im schlimmsten Fall in einer Arbeitsunfähigkeit münden.

Wie finden Unternehmen einen gesünderen Umgang mit Überstunden?

Ist Not am Mann, sind Überstunden für viele Arbeitgeber und Arbeitnehmer selbstverständlich. Ausnahmen schaden der Gesundheit nicht und gefährden auch die Sicherheit der Mitarbeiter nicht. Werden Überstunden hingegen zu einem chronischen Problem, weil sie nicht einmal oder zweimal abgeleistet werden, sondern dauerhaft, tragen Arbeitende langfristig Schäden davon, die sich auf die Gesundheit und Arbeitszufriedenheit auswirken.

Das sozialpsychologische Phänomen des Nachahmens führt häufig dazu, dass Mitarbeiter es ihren Führungskräften und Kollegen gleichtun: Sie bleiben manchmal freiwillig länger, weil die anderen es auch tun. Damit wächst der Erwartungsdruck. Wünschen Unternehmen sich gesunde und glückliche Mitarbeiter, sollten diese deshalb proaktiv auf ihre Mitarbeiter zugehen, sie nicht länger als nötig arbeiten lassen und ihnen signalisieren, dass es Zeit wird, Feierabend zu machen.

Doch in vielen Unternehmen wäre eine solche Entwicklung zu schön, um tatsächlich wahr zu sein. Umso wichtiger ist es für Arbeitnehmer, selbst achtsam mit ihren körperlichen, mentalen und zeitlichen Ressourcen umzugehen. Wer mit Überstunden besser fahren will, sollte deshalb Eigenverantwortung beweisen, seine Grenzen kennen und diese auch setzen – weil permanente Überarbeitung mit guter Leistung wenig zu tun hat.

Bild: kieferpix/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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