Veraltete Plattitüden müssen Azubis sich bis immer wieder heute anhören – obwohl Betriebe kaum Nachwuchstalente finden und diese immer wertvoller werden.

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„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, einer der vielen Klassiker-Plattitüden, die Auszubildende immer wieder über sich ergehen lassen müssen. Gemeint ist damit oft: Als Azubi sollte man bescheiden bleiben. Sich fügen. Auch mal die Drecksarbeit erledigen. Aus einem Mal werden viele Male, der Ton rauer, die Mehrarbeit intensiver. Bis man die „Herrenjahre“ erreicht, ist es ein weiter Weg. So war es zumindest bisher.

Doch die Zeiten sollten vorbei sein. Deutschland hat weiterhin ein Azubi-Problem. Handwerksbetriebe suchen verzweifelt nach neuen Auszubildenden. Viele Stellen bleiben unbesetzt. An der Zahl sollen es im Frühjahr 2023 rund 40.000 Ausbildungsplätze gewesen sein, so Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH). Neu-Azubis fehlen auch im sozialen Bereich, in der Pflege, im Gastgewerbe und in vielen weiteren Berufen.

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An der Bezahlung allein scheitern es nicht immer, hier hat sich einiges getan, häufig aber am schlechten Image der Berufsausbildungsbedingungen. Sie wirken unattraktiv, vor allem auf die junge Generation Z, die hartnäckig an ihrer Forderung nach besseren Arbeits- und Ausbildungsbedingungen festhält. Vermeintliche Weisheiten wie „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ kommen nicht gut an. Nicht aufgrund von Faulheit, sondern weil die Arbeitswelt sich verändert und das System „Ausbildung“ davon betroffen ist.

Reinhard F. Schuh, Personalvermittler, der mit dem Slogan „Personalberater für Chefs mit Herz“ wirbt, spricht gar von „menschenverachtend“, wenn er hört, dass Lehrjahre keine Herrenjahre seien, und dass Unternehmen vor allem sich selbst im Fokus hätten – aber dennoch überrascht seien, wenn sie kein Personal für sich begeistern könnten.

„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“: Etwas Wahrheit – und viel Mist

WDR-Mitarbeiter und Autor Stefan Watermann vermutet Neid hinter dem, was Auszubildende sich anhören müssen, und vielleicht soll es auch ein Denkfehler sein. Demnach bekämen nicht die jungen Leute zu viel Geld und sie arbeiteten auch nicht zu wenig. Sondern die älteren Generationen hätten zu wenig bekommen und zu viel gearbeitet, so Watermann.

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Dass Ausbildungsjahre nicht unbedingt die spaßigsten Jahre für junge Menschen sind, die in die Berufswelt einsteigen, liegt nahe, denn sie müssen viel lernen. Und es kostet Arbeit, Zeit und Nerven, um in Sachen Kommunikation, Teamarbeit und Verantwortung fit zu werden. Die Phrase, dass Lehrjahre keine Herrenjahre seien, knüpft dennoch am Neidgedanken an, weil die Arbeitsbedingungen sich verbessern. Getreu dem Motto: „Weil ich das zu meinen Azubi-Zeiten nicht haben durfte, darfst du auch nicht profitieren.“ Wer den fiesen Herrenjahre-Spruch von seinem Chef einstecken muss, kann davon ausgehen, dass es nicht die persönliche Überzeugung des Bosses ist, sondern das, was auch diesem von seinen eigenen Vorgesetzten eingetrichtert worden ist.

Ein weiteres Problem stelle der Mangel an Wissen zum Thema Personalarbeit mit Auszubildenden dar, findet DEHOGA-Geschäftsführerin Sandra Warden: Vielen Unternehmen wüssten nicht, wie professionelle Personalarbeit funktioniere, weil zum Beispiel das Thema Wertschätzung ein untergeordnetes sei.

Fehler, die Ausbildungsbetriebe heute vermeiden sollten

Sicher ist, dass nicht nur Azubis, sondern auch ausgelernte Arbeitskräfte die eine oder andere Sache im Job erledigen müssen, die nicht zu ihrem eigentlichen Aufgabenbereich gehört. Das kann eine Erledigung für den Chef sein, das Kaffeekochen, das Saubermachen, das Kopieren. Was nach schlecht bezahltem Praktikum klingt, ist in vielen Betrieben noch immer ein unausgesprochenes Gesetz, nämlich: Gehorsam zeigen. Um Ausbildungen wieder attraktiver zu machen, müssen die Systeme und Strukturen in Unternehmen jedoch zeitgemäßer werden. Häufige Fehler:

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1. Ausbilder begegnen ihren Auszubildenden nicht immer auf demselben Level

Lena Pilz, Lehrende an der Hochschule Pforzheim und Coach für Führungskräfte, vermutet, dass in vielen Ausbildungsbetrieben noch immer eine Kultur vorherrscht, die es nicht möglich macht, dass Auszubildende und Ausbilder sich auf Augenhöhe begegnen. Dennoch wird damit geworben, vor allem in Branchen, in denen viele Nachwuchstalente weiterhin fehlen. Es wird von „flachen Hierarchien“ gesprochen; einladende Formulierungen, die so manchen jungen Menschen dazu verleiten könnten, sich zu bewerben, um dann doch wieder enttäuscht zu sein. Die Auszubildenden von heute seien eher bereit, zu kündigen, und sie seien im Vergleich sensibler, so Pilz.

Die Kündigungs- und Wechselbereitschaft zeigt sich jedoch nicht nur in Ausbildungsberufen, sondern generell: Spätestens seit der Pandemie ist die Bereitschaft vieler Arbeitnehmer deutlich angestiegen, den Beruf zu wechseln, sich umzuorientieren und sich selbst zu verwirklichen.

2. Defizite in Sachen konstruktive Feedbackkultur

Ob Lerngeschwindigkeit, Performance oder Soft Skills: Auszubildende sind auf regelmäßiges Feedback angewiesen, doch auch in diesem Bereich besteht Nachholbedarf. Obwohl junge Menschen vor allem Sicherheit und Vertrauen benötigen, um stetig dazulernen zu können, bekommen sie es nicht selten mit vernichtender Kritik und übermäßiger Strenge zu tun, die verunsichert. Auch hier bedarf es einer Veränderung.

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Und: Auszubildende sollten ernst genommen werden, wenn sie selbst Feedback geben. Gezielte Fragen von Vorgesetzten können gar dazu ermutigen, dass junge Nachwuchskräfte sich trauen, konstruktive Rückmeldungen zu geben, ihre Erfahrungen zu schildern und Verbesserungsvorschläge zu machen.

3. Gehorsam statt Vertrauen und Verantwortung

Ein rauer Ton, wie er in einigen Ausbildungsberufen noch immer systematisch zum „guten Ton“ gehört, wird von jüngeren Beschäftigten heute weniger toleriert. Verantwortung, Flexibilität und Selbstständigkeit – das ist es, was sich Azubis hingegen zunehmend wünschen. Ein Fehler, den Ausbilder und Ausbildungsbetrieben trotzdem weiterhin begehen, ist, Kontrolle auszuüben und Gehorsam zu verlangen.

Kommunikationslücke und Corona-Krise: Azubis zunehmend verunsichert

Nicht nur Betriebe tragen Verantwortung: Der Mangel an Auszubildenden in Deutschland, der in einigen Branchen vorherrscht, wurde durch die Pandemie verstärkt. Bernd Fitzenberger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung betont, dass die Situation viele junge Menschen und Schüler zunehmend verunsichert habe. Informationslücken verstärken das Problem.

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Auch Gregor Wendler von der IHK Berlin sieht die Herausforderung: Man müsse eine „andere Sprache wählen“, um die junge Gen Z gezielt zu informieren und anzusprechen. Denn diese sehnen sich nach Mitgestaltung, so Wendler, während die Boomer-Generation froh gewesen sei, dass sie überhaupt an eine Stelle kamen und einen Job ergattern konnten.

Der Hinweis auf eine andere Kommunikationsart und Sprache bestätigt, dass Plattitüden und Phrasen ausgedient haben – und dass der Spruch, dass Lehrjahre keine Herrenjahre seien, an Kraft verliert. Personalberaterin Nicola Pauls von der Handwerkskammer Stuttgart verweist ebenfalls auf die Art der Kommunikation zwischen Ausbildungsbetrieben und potenziellen Azubis. Vielen Betrieben falle es heute schwer, zeitlose Werte, die wichtiger werden, auch zu vermitteln. Dazu gehörten beispielsweise „kurze Kommunikationswege“ oder auch „Kollegialität“, findet Pauls.

Auszubildende wollen lernen, sich aber nicht nur „fügen“

Ein Werte- und Generationskonflikt existiert nun schon einige Jahre. Für Ausbildungsbetriebe ist das nicht einfach: Trotz ihrer Bemühung und zahlreicher Werbeaktionen, um Ausbildungsberufe wieder attraktiver zu machen und Nachwuchstalente anzulocken, ist grundsätzlich festzustellen, dass immer mehr junge Menschen eine akademische Laufbahn einschlagen.

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Um potenzielle Auszubildende abzuholen, ist es deshalb nicht nur von Bedeutung, mit (manchmal doch recht inhaltsleeren) Lockangeboten zu werben, sondern ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und von veralteten Überzeugungen („Lehrjahre sind keine Herrenjahre“) Abstand zu nehmen. Tatsache ist: Sie wollen lernen, sich aber nicht ausschließlich fügen.

Bild: Foto von Maria Lysenko/Unsplash

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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