Ploppt eine E-Mail auf, reagieren wir blitzschnell und stressgesteuert. Viel zu schnell, wie Forschungsergebnisse zeigen – weil Arbeitenden ständige Erreichbarkeit suggeriert wird.

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Heute schon alle Mails beantwortet?

Terminvorschläge verschicken, Dokumente mit den Kollegen teilen, den Chef up to date halten: Einen Teil ihres Arbeitsalltags verbringen Arbeitende heute online, um Mails zu beantworten. Ob 5, 10 oder gar 20 E-Mails pro Tag, in unseren digitalen Postfächern herrscht selten Stille. Der New-Work-Lifestyle impliziert eine ständige digitale Verfügbarkeit. Wer nicht erreichbar ist, ist nicht engagiert und unzuverlässig – so zumindest die allgemeine Annahme.

Die Forscherinnen Laura M. Giurge (London School of Business) und Vanessa K. Bohns (Cornell University) haben sich in ihrer Forschungsarbeit mit der Reaktionsgeschwindigkeit von E-Mail-Empfängern beschäftigt und herausgefunden: Wir überschätzen die tatsächlichen Erwartungen des Absenders. Denn so schnell, wie unsere Antwortgeschwindigkeit ist, müsste sie gar nicht sein, weil der Sender diese nicht so schnell erwartet. Die Wissenschaftlerinnen nennen dieses Phänomen „email urgency bias“. Auch Mails, die nicht explizit auf eine mögliche Dringlichkeit hinweisen, werden oft schnell beantwortet.

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Mail Urgency Bias: Das sind die Ursachen

„Urgency“ steht für Dringlichkeit. „Bias“ beschreibt die Verzerrung in unserer Wahrnehmung, die entsteht, wenn wir systematisch in eine oft falsche Richtung denken, verursacht durch Vorurteile, Suggestion oder Beeinflussung. Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Diskrepanz zwischen Empfängern und Sendern von E-Mails vor allem aufseiten der Empfänger zu erhöhtem Stress führt.

In der heutigen Arbeitswelt wird Arbeitnehmern und auch Führungskräften unterschwellig signalisiert, immer erreichbar sein zu müssen. Auch wenn viele Mails nicht mit „dringend“ gekennzeichnet werden: Weil es so ist und weil wir keinen schlechten Eindruck hinterlassen möchten, um unsere Position fürchten oder einfach zeigen wollen, wie engagiert wir sind, reagieren wir auch außerhalb unserer eigentlichen Arbeitszeit auf berufliche – aber nicht immer dringende – E-Mails.

Übrigens: Auch Machtdynamiken haben eine Bedeutung. So ist davon auszugehen, dass Empfänger, die eine E-Mail von Vorgesetzten oder Teamchefs erhalten, sich eher unter Druck gesetzt fühlen und deshalb schneller reagieren.

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Folgende Ursachen können grundsätzlich eine email urgency bias auslösen:

  • Sorgen um die eigene Position oder um den Ruf
  • Arbeitsplätze, die keine normativen Zeitstrukturen bieten/vorgeben
  • Druck von Teamkollegen oder Vorgesetzten, Arbeiten schnell zu erledigen
  • eigene Versagensängste

Verzerrte Wahrnehmung: Empfänger denken anders als Sender

Vor allem auf mentaler Ebene stehen Sender und Empfänger auf zwei verschiedenen Ebenen. Wissenschaftlerin Giurge erklärt die Gedankengänge beider Parteien so:

  • Während Sender einen Vorgang mental abschließen, indem sie eine Nachricht verfassen und verschicken, eröffnet das Eingehen der Nachricht im E-Mail-Postfach beim Empfänger einen neuen gedanklichen Prozess – vor allem auch außerhalb der Arbeitszeit. Obwohl Nachrichtenverfasser eine sofortige Reaktion nicht unbedingt intendieren.
  • Auf Basis der falschen Annahme und der einseitigen Perspektive, welche sich auf die des Empfängers beschränkt, erfolgt eine eigentlich übereilte Reaktion. Denn als Empfänger denken wir: „Ich muss schnell reagieren, weil jemand meine Antwort erwartet.“
  • Erst mit dem Abschicken der E-Mail kehrt Ruhe ein und unser Stresspegel sinkt.

E-Mail beantworten: Wie viel Zeit können wir uns lassen?

Eilt eine Antwort, werden wir häufig um eine zeitnahe Rückmeldung gebeten. Völlig normal: Wenn wir eine dringende Information benötigen, bitten auch wir selbst um schnelle Reaktion. Auch dann müssen Arbeitnehmer in aller Regel nur während ihrer eigentlichen Arbeitszeit erreichbar sein. Wer zum Beispiel erst um 14 Uhr eine Spätschicht beginnt, muss die E-Mail auch erst ab 14 Uhr öffnen.

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Als Faustregel gilt: Eine berufliche E-Mail sollte innerhalb von 24 Stunden und während der Geschäftszeit oder während der Arbeitszeit beantwortet werden – es sei denn, es wurde explizit eine andere Regelung getroffen, etwa für die Kommunikation unter Kollegen. Im Urlaub müssen wir keine beruflichen Mails beantworten und können Empfänger mit einer automatischen Antwort freundlich und klar darauf hinweisen. Die Abwesenheitsnotiz sollte eine Information zur Nicht-Erreichbarkeit beinhalten und auch zeigen, wann der Empfänger wieder erreichbar ist, ob eine Weiterleitung an Kollegen erfolgt und wer Ansprechpartner ist.

Dringlichkeitsverzerrung verhindern: Wie Teams die E-Mail-Kommunikation verbessern können

Eine email urgency bias muss nicht sein, weil die kognitive Verzerrung vielerlei Nachteile für Angestellte und auch Führungskräfte hat:

  • Die ständige Erreichbarkeit belastet uns emotional und führt zu psychischem Stress.
  • Zur mentalen Erschöpfung gesellen sich durch den erhöhten Stresspegel häufig körperliche Beschwerden, etwa Kopfschmerzen, weil das Abschalten nicht gelingt.
  • Es werden Werte impliziert, die auf keine Weise unsere Produktivität fördern.

Was kann also helfen?

1. Für Absender: Wichtig ist, die Dringlichkeit zum Thema zu machen

Eine einfache Regel, die wir vor allem als Sender einer E-Mail einhalten können, um eine email urgency bias zu verhindern, ist, eine Arbeitsnachricht als „dringend“ zu kennzeichnen. Inflationär sollten wir die Kennzeichnung jedoch nicht verwenden. Wenn wir eine schnelle Rückmeldung erwarten, ist eine klare Kommunikation unabdingbar. Gleichzeitig ist es wichtig, die arbeitsfreie Zeit unserer Kollegen und Vorgesetzten zu respektieren – denn auch wir selbst wollen unsere Freizeit ohne Arbeits- und E-Mail-Unterbrechungen genießen.

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Übrigens: Genauso kann es helfen, nicht dringende Mails mit einem kurzen Hinweis am Ende der Nachricht als solche zu benennen. Häufig ist dies der Fall, wenn wir lediglich eine Idee mitteilen wollen, die eigentliche Thematisierung jedoch bis zum nächsten Meeting warten kann.

2. Für Empfänger: Die eigene Reaktionsgeschwindigkeit sollte reflektiert werden

Sofern keine Rufbereitschaft oder Arbeit auf Abruf stattfindet, müssen Arbeitnehmer nicht sofort auf eingehende Mails reagieren. Das sollten wir uns – trotz unserer eigenen Ängste und Sorgen – vor Augen führen. Wer jedoch immer schnell und auch außerhalb der eigenen Arbeitszeiten auf digitale Post reagiert, konditioniert nicht nur Empfänger darauf, sondern auch sich selbst, viel zu schnell zu reagieren. Kurz innehalten und dann abwägen, welche Priorität E-Mails situationsabhängig haben – so sollte die Devise lauten.

Tipp: Sofern du noch keine Antwort parat hast oder mehr Zeit benötigst, um auf eine dringende E-Mail zu antworten, hilft es, direkt nachzufragen, wann ein Ergebnis vorliegen soll oder um etwas Geduld zu bitten – anstatt überhaupt nicht zu reagieren.

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3. Für beide Seiten: Unausgesprochene „Teamregeln“ sollten besprochen werden

Führungskräfte und Mitarbeiter können sich entlasten, wenn sie offen über unausgesprochene Normative im Team sprechen – und dazu gehört die digitale Verfügbarkeit. Nicht nur die „alten Hasen“ profitieren davon, weil oft belastende Themen auf den Tisch kommen. Auch neue Teammitglieder werden besser integriert und bekommen Orientierung in Sachen Teamkommunikation, wenn sie wissen, woran sie sind und wie sie in schwierigen Situationen zu reagieren haben.

Unser Zusatztipp für dich

Wollen wir uns in unserer Freizeit nicht um Arbeitsangelegenheiten kümmern, und das ist das gute Recht jedes Arbeitnehmers und jeder Führungskraft, können wir mit einer „Zwischenantwort“ Abhilfe schaffen. Dies gilt vor allem für Nachrichten, die dringend sind, unsere persönlichen Grenzen und Kapazitäten jedoch überschreiten. Zudem hilft es, einen ungefähren Zeitraum anzugeben, in dem wir uns um eine berufliche Angelegenheit kümmern wollen – denn so haben auch Absender die Gewissheit, wann sie mit einer Antwort rechnen können.

Vergiss aber nicht: 24/7 muss niemand online oder verfügbar sein. Und auch dein E-Mail-Postfach kommt, zumindest wenn du Feierabend hast, gut ohne dich aus.

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Bildnachweis: Infadel/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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