Smartsteuer, Comspace, Soulbottles: Sie arbeiten ohne starre Hierarchien und klassischem Chef. Für Unternehmen mit Top-down-Ansatz eine utopische Vorstellung.

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Zeit für neue Management-Systeme

Die Annahme, dass alle Positionen in einem Unternehmen wichtig sind und jeder Mitarbeiter am Erfolg partizipiert, hebt sich von konservativen Idealen der Führung deutlich ab. Es wird Zeit für neue Führungssysteme – und sogar für Systeme, die gänzlich ohne Chef-Hierarchien auskommen.

Klassische Führungskulturen funktionieren bisher, wenn der Chef an der Spitze sitzt. Die Rollenverteilung ist klar: Entscheidungen werden oben getroffen, während die, die unten sind, Aufgaben ausführen. Doch bewegungslose, starre Hierarchien sind längst nicht mehr zeitgemäß.

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Vorweg: Mit „hierarchiefrei“ werben moderne Unternehmen oft. Doch ganz ohne Hierarchie existiert kein Unternehmen, weil Rangordnungen sich überall dort ergeben, wo Menschen sich begegnen – auch wenn Firmen sich als „frei von Hierarchie“ bezeichnen. Wichtig ist deshalb, ein Verständnis für die Konnotation des Wortes Hierarchie zu entwickeln. Im Rahmen des New-Work-Konzeptes sind damit üblicherweise klassische, strenge Rangordnungen in Unternehmen gemeint, die einer „Auflockerung“ und Umstrukturierung bedürfen.

Auch wenn einige Führungskräfte, die am alten Bild des Chef-Seins festhalten, sich weigern, den Wandel anzunehmen: Die Firmen ohne klassischen Chef – oder die Firmen, in denen einfach jeder sich Chef nennen darf – existierten.

Arbeit ohne Top-down-Ansatz: Diese Firmen machen’s vor

Smartsteuer

Smartsteuer hat sich gegen starre Hierarchien entschieden. Das Management-Team habe sich selbst abgeschafft, heißt es auf der Firmenseite. Bereits seit September 2019 arbeitet das Unternehmen im Sinne des New-Work-Konzepts. Es heißt, dass nun jeder selbst Führungskraft sein dürfe. Auf dem Papier ist zwar Björn Waide als CEO eingetragen. Doch den klassischen Chef, den gibt es hier dem Unternehmen nach nicht.

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Soulbottles

Soulbottles ist ein weiteres Beispiel. Der Trinkflaschenhersteller setzt auf das „Holacracy-Prinzip“ (dtsch. Holokratie), welches agiles Arbeiten möglich macht. Es steht für flache Strukturen, Autonomie und Selbststeuerung.

Hinter Holokratie steckt aber nicht unbedingt der Gedanke, jegliche Führungsrollen abzuschaffen, sondern diese zum Beispiel so zu verteilen, dass nicht eine einzige Macht ein Unternehmen regiert – sondern jeder die Möglichkeit hat, Teil der gemeinsamen Mission zu sein und selbstbestimmt zu arbeiten. Bei Soulbottles existieren agile Organisationskreise und jeder Kreis hat sogenannte „Lead Links“, die eine Verbindungsrolle übernehmen, heißt es, aber nicht starre Vorgaben wie bei einer klassischen Führungsrolle machen. Es ginge zum Beispiel nur darum, Priorisierungshilfen zur Verfügung zu stellen und das Team zusammenzuhalten.

Comspace

Demokratische Abstimmungen oder eben klassisch-hierarchische Entscheidungen: Wie ein Team arbeiten und entscheiden will, entscheidet jedes interne Team selbstständig, sagt geschäftsführender Comspace-Gesellschafter Andreas Kämmer.

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Die Digitalagentur gehört damit zu den modernen Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Raum und Entscheidungsfreiheit bietet, wenn es um die eigene Arbeit geht. Projektverantwortung verteile sich „auf mehrere Schultern“ und Projektleiter verwalten nicht die Mitarbeiter, heißt es weiter. Sondern sie verwalten die Arbeit, sagt Kämmer.

Hierarchie: Warum sie auch ohne strenge Chef-Rolle ihre Daseinsberechtigung hat

Firma „ohne Chef“ meint im Sinne von New Work, ohne die Art von Chef zu arbeiten, die autonomes, eigenverantwortliches und flexibles Arbeiten nicht zulässt. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass New Work einen radikal-anarchistischen, „gesetzlosen“ Ansatz fordert – sondern eine Auflösung von streng autokratischen Hierarchien und Firmendiktat.

Vor dem Hintergrund ist auch zu erwähnen, dass Hierarchien generell ihre Daseinsberechtigung haben, obwohl sie aufgrund von schlechten, einprägsamen Erfahrungen von Arbeitnehmern häufig negativ bewertet werden. Betrachtet man sie wertungsfrei, bilden sie im Grunde einen Ordnungsrahmen, der Mitarbeitern auf mentaler Ebene Sicherheit und Orientierung vermittelt, Verantwortlichkeiten klar verteilt und feste Strukturen vorgibt. So zumindest die Idee, denn in der Praxis sieht die Umsetzung nicht ganz so blumig aus.

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Was brauchen Firmen, um ohne klassischen Chef zu funktionieren?

1. Management-Initiative

Es existieren nicht nur Schwarz und Weiß und eine etablierte Führungskultur kann nicht von heute auf morgen aufgelöst werden. Firmen, die ohne klassischen Chef arbeiten wollen, brauchen vor allem eine Sache –und das ist ein Management, das selbst die Initiative ergreift und bereit ist, flachere Strukturen zu realisieren, um keine vertikalen Kontrollen mehr „nach unten“ durchzuführen.

Smartsteuer hat es vorgemacht: Erst müssen die, die an der Spitze sitzen, ihre Macht loslassen und lernen, sie zu teilen. Für Unternehmer, die an ihrem „Baby“ hängen und die Kontrolle schlecht abgeben können, ist dies ein schwieriger Schritt.

2. Freiwilligkeit

Der Industriereport Fachkräftemangel 2022 von Skilltree zeigt, dass die Hälfte der Führungskräfte nicht weiß, wie es um die Stärken und Skills ihrer Mitarbeiter steht.

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Durch Freiwilligkeit kann es gelingen, dass einzelne Teammitglieder ihre Stärken gekonnt einsetzen, um zum Erfolg beizutragen. Klassische Führungskulturen geben hingegen vor, wo es langgehen muss – zumeist aber ohne zu wissen, welches Potenzial und welche Stärken tatsächlich zur Verfügung stehen, weil der Mitarbeiter nicht im Mittelpunkt steht.

Selbstbestimmtes Arbeiten ohne starre Hierarchien ermöglicht es, dass Mitarbeiter selbst entscheiden, wie zum Beispiel die Organisation eines Projektteams erfolgt, und zwar so, dass Schwarmwissen zum Benefit wird und Vielfältigkeit sowie Mut zur Diskussion und Meinungsverschiedenheit gelebt werden und nicht nur plakativ versuchen, Bewerber anziehen.

3. Als Team: Bereitschaft, Verantwortungsübernahme, Organisation

Agile Methoden ergeben dort Sinn, wo ständige Anpassung notwendig ist. Sie sind ein bedeutender Ansatz, um Firmen ohne starre Hierarchien zu organisieren. Wichtig hierfür ist ein motiviertes Team mit Mitarbeitern, das bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und selbstorganisiert zu arbeiten. Denn Selbstbestimmung ist nicht nur ein Geschenk, sondern auch eine Herausforderung.

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Fällt die klassische Chef-Hierarchie weg, bedarf es anderer Methoden, die vor allem die intrinsische Motivation sowie das Verantwortungsbewusstsein der Angestellten fördern. Gelingen kann dies durch die Übernahme von Funktionen in der Firma und nicht von „Rollen“ im klassischen Sinne. Konservative Rollenaufteilungen werden ersetzt: Wer bisher beispielsweise in die Rolle eines Social Media Managers „gepresst“ worden ist, ist nun vielmehr ein Angestellter, welcher die Funktion des Social Media Managers und zum Beispiel noch einen weiteren Bereich verantwortet.

4. Offenheit gegenüber neuen Management-Konzepten

Ob Soziokratie oder Holacracy: Nicht nur der Wunsch nach einem Unternehmen ohne Chef muss da sein, sondern auch eine ehrliche Offenheit gegenüber neuartigen Konzepten. Vor allem Unternehmen, die Führung bisher nur im Top-down-Ansatz kennen, tun sich hier schwer.

An Grenzen stoßen viele Gründer und Unternehmen auch, wenn sie merken, dass die Organisation neuer Methoden und Strukturen nicht ganz so einfach ist, wie es vielleicht auf dem Papier klingt. Nicht selten hängt dies mit einer unrealistischen Idealisierung einer Idee zusammen, die mehr Arbeit und Veränderungswillen erfordert, als aufgebracht werden kann. So toll eine Idee auch sein mag – es ist wichtig, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren.

Offen zu sein bedeutet deshalb auch, die Geduld aufzubringen, um weiterhin an das gemeinsame Ziel zu glauben und zu akzeptieren, dass Veränderungen Arbeit bedeuten und ohne Mühe nicht funktionieren.

Firma ohne Chef heißt, autonom, flexibel und verantwortungsbewusst zu arbeiten

Zugegeben: Ganz ohne Strukturen und Hierarchien wird es nie gehen – wohl aber mit neuartigen Ordnungen, die Motivation, Freiwilligkeit und Zufriedenheit fördern. Das New Normal steht für Arbeiten auf Augenhöhe. Selbstbestimmung findet in immer mehr Unternehmen Einzug, auch mit dem Wissen, dass damit erst die Arbeit beginnt. Wenn Firmen ohne Chefs eine Chance haben wollen, stehen Verantwortung und Veränderungswille deshalb an erster Stelle.

Bild: Foto von Craig Marolf/Unsplash

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

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