Flexibilität kann auch schaden: Nach den Daten einer aktuellen Hans-Böckler-Stiftung arbeitet jeder zehnte Beschäftigte in Deutschland suchthaft. Wenn „Feierabend“ zum Fremdwort wird.

Anzeige

Eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie hat ergeben, dass jeder zehnte Beschäftigte hierzulande keinen richtigen Feierabend genießen kann. Der Grund: Arbeitssucht.

Die Ergebnisse zeigen, dass es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Demnach sind sowohl Männer als auch Frauen von Arbeitssucht betroffen. Auffällig hingegen ist das Ergebnis in Bezug auf Altersgruppen. Laut Auswertung sind es vor allem junge Leute, für die Feierabend zunehmend zum Fremdwort wird. Entgegen der landläufigen Meinung, dass die Arbeitsbereitschaft junger Leute abnimmt, zeigt sich zumindest in dieser Analyse, dass – ganz im Gegenteil – eine Tendenz in Richtung Arbeitssucht festzustellen ist.

Anzeige

Auch die Arbeitszeit soll eine Rolle spielen. So sei beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Vertragsarbeitszeiten sowie Arbeitssucht zu erkennen. Wer suchthaft arbeitet, hätte demnach ohnehin insgesamt längere Arbeitszeiten im Arbeitsvertrag stehen, sodass ein früher Feierabend nicht gängig ist.

Übrigens: Sofern ein Betriebsrat existiert, liegt der Anteil der süchtigen Arbeitnehmer in einem Unternehmen bei 9 Prozent. Fehlt dieser, steigt der Anteil auf etwa 12 Prozent an. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Betriebsräte im Wesentlichen für die Interessen der Arbeitnehmer zuständig sind und das Fehlen des Rates zu einer Vernachlässigung führt.

Diese Erwerbstätigen sind besonders häufig süchtig nach Arbeit

Mit einem Anteil von 12,4 Prozent seien Führungskräfte die Gruppe der Erwerbstätigen, die besonders häufig von Arbeitssucht betroffen sind. Das exzessive Arbeiten steige mit der Führungsebene an: Je größer die Verantwortung, desto ausgeprägter sei auch die Sucht.

Anzeige

Weniger überraschend ist auch das Ergebnis der Selbstständigen. Im Gegensatz zum 10-Prozent-Anteil bei Angestellten liegt der Anteil der Arbeitssüchtigen unter Selbstständigen bei etwa 14 Prozent. Die Studienautoren weisen in diesem Zusammenhang auf „fehlende betriebliche Regulation“ sowie „finanzielle Ungewissheit“ als mögliche Erklärung für das suchthafte Verhalten hin.

Risikofaktoren: Wie kommt es zur Arbeitssucht der heutigen Erwerbstätigen?

Verantwortlich für das suchthafte Arbeiten ohne richtigen Feierabend sei vor allem die zunehmende Vermischung von Beruflichem und Privatem. Homeoffice-Regelungen sowie die ständige (digitale) Erreichbarkeit, unter der sowohl Mitarbeiter als auch Führungskräfte leiden, tragen einen wesentlichen Teil dazu bei, dass die Arbeit zum Dauerbegleiter im Alltag wird.

Auch individuelle Risikofaktoren, die nicht auf die Flexibilisierung der Arbeitswelt zurückzuführen sind, können der Auslöser für suchthaftes Arbeiten sein. Zum Beispiel:

Anzeige
  • Flucht vor privaten Problemen
  • ausgeprägte Bedürfnis nach Anerkennung
  • Existenzängste; Sorge, den Job zu verlieren
  • Perfektionismus
  • fehlendes Sozialleben und Einsamkeit

Welche Folgen hat Workaholism?

Arbeitssüchtige leiden laut Studie vor allem gesundheitlich, aber ihre Bereitschaft, einen Arzt aufzusuchen, sei kleiner. Doch die Sucht hat ernsthafte Folgen, die langfristig schaden können. Wer von Workaholism betroffen ist, muss mit folgenden Konsequenzen rechnen:

1. Psychosomatische Probleme

Der Rücken schmerzt aus unerklärlichen Gründen. Der Stuhlgang findet „sturzartig“ statt. Der Kopf tut weh. Bauchschmerzen, Unwohlsein, Verdauungsprobleme: Psychosomatisch äußert sich eine hohe mentale Belastung auf körperlicher Ebene. Doch Arbeitssüchtige tun dies häufig ab – oder können den Ernst der Lage nicht erkennen.

2. Risiko für Burnout und Depression

Vor allem Workaholics laufen Gefahr, wegen der hohen Arbeitsbelastung ohne Pausen und Feierabend auszubrennen. Sie überschreiten ihre eigenen Grenzen, und das nicht nur einmal, sondern dauerhaft. Weil kein Feierabend stattfinden kann, bleibt das Stresslevel auf einem konstant hohen Niveau. Sind die Ressourcen aufgebraucht und die Energiereserve leer, kommt es früher oder später zu einem Burnout.

Anzeige

Auch die Depressionsgefahr ist höher: Weil Arbeit allein mentale Bedürfnisse nicht stillen kann, vor allem nicht langfristig, vereinsamen Betroffene. Beziehungen werden vernachlässigt. Es droht Vereinsamung.

3. Körperliche Erkrankungen

Neben psychosomatischen Problematiken, die sich beispielsweise mit der Hilfe einer Gesprächstherapie legen können, leiden Arbeitssüchtige auch unter ernsthaften körperlichen Problemen und Risiken, beispielsweise unter einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Wie können Unternehmen vorbeugend handeln?

Soziologin Beatrice van Berk, eine der Autoren der Studie zum Thema Arbeitssucht, verweist auf die Betriebskultur. Hinsichtlich des Workaholisms sei vor allem und generell auch die jeweilige Führungskultur ein bedeutendes Element. Die Art, wie Vorgesetzte selbst arbeiten und mit exzessivem Arbeiten umgehen, kann entscheidend sein.

Anzeige

So werden Arbeitnehmer zum Beispiel eher zu suchthaftem Arbeiten neigen, wenn Führungskräfte selbst nie richtig Feierabend machen oder Druck auf Angestellte ausüben. Die Pausenkultur eines Betriebes kann ebenfalls danach ausgerichtet sein, sodass sie suchthaftes Arbeiten verstärkt oder dem entgegenwirkt, indem regelmäßige Pausen stattfinden (dürfen).

Wie können Mitarbeiter und Kollegen helfen?

Die Sensibilisierung in Teams ist wichtig, um Workaholism vorzubeugen und um bei bestehenden Fällen einen konstruktiven, gesunden Umgang damit zu finden. Feinfühligkeit und Professionalität sind gefragt. Plumpe Vorwürfe, es maßlos zu übertreiben, können dazu führen, dass Betroffene sich verschließen und das Verhalten sich verstärkt.

Grundsätzlich ist Arbeitssucht nicht nur Thema des Einzelnen. Denn Mitarbeiter, die süchtig nach Arbeit sind, können ihren eigenen Perfektionsanspruch auf Team und Kollegen übertragen, was dem Klima und der Zusammenarbeit schadet.

Anzeige

Wichtige Punkte zur Prävention und zum Umgang bei bestehender Arbeitssucht:

1. Klare Aufgabenverteilung im Team

Verantwortlichkeiten, etwa bei neuen Projekten, sollten benannt und festgehalten werden, damit Workaholics sich nicht die Aufgaben anderer „wegschnappen“, um „mal eben auszuhelfen“. Bei Grenzüberschreitungen ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen.

2. Aufgaben abnehmen

Nicht alle Aufgaben bedürfen einer Besprechung, doch hier ist das Gefahrenpotenzial besonders hoch, dass Arbeitssüchtige beherzt zugreifen: Auffällig oft überlädt sich ein Kollege mit viel zu viel Arbeit? Eine konsequente Umverteilung kann helfen. Nicht immer nehmen Workaholics ihren Automatismus wahr. Umso wichtiger kann es sein, in einem ruhigen Moment darauf aufmerksam zu machen und anzubieten, einige der Aufgaben abzunehmen oder anders zu verteilen.

3. Gemeinsam darauf achten, Feierabend zu machen

Aufgrund der Flexibilisierung der Arbeitswelt wird es nicht immer möglich sein, Kollegen dazu zu bewegen, gemeinsam Feierabend zu machen. Vor allem Arbeitssüchtige bleiben lieber im Büro und schlagen Angebote, im Anschluss zusammen etwas essen oder trinken zu gehen oder eine andere Aktivität zu planen, lieber aus. Dennoch ist es eine gute Möglichkeit, Feierabendrituale zu etablieren, an denen jeder freiwillig teilnehmen kann, um Betroffenen zumindest eine Option zu bieten. Dies kann auch Teil einer Teambuilding-Maßnahme sein.

Kann Arbeitssucht therapiert werden?

Im Klassifizierungssystem ICD-10 wird Arbeitssucht nicht als eine eigenständige Erkrankung geführt. Experten und Psychologen ordnen sie jedoch anhand verschiedener Kriterien einer nicht-stoffgebundenen Sucht zu, zu denen etwa Süchte wie Kaufsucht oder Spielsucht gehören. Kriterien:

  • unkontrollierbares, zwanghaftes Verhalten
  • 24/7 drehen sie die Gedanken um den Job
  • exzessiver „Konsum“ (in diesem Fall: „Arbeit“)
  • bei Feierabend: Schuldgefühle bis hin zu Entzugssymptomen
  • genervte, aggressive Reaktion beim Thema Arbeit

Betroffenen kann geholfen werden: Wer süchtig nach Arbeit sowie bereit ist, etwas zu verändern, der Gesundheit und Seele etwas Gutes zu tun und so die Lebensqualität wieder zu erhöhen, kann eine Psychotherapie durchführen. Mit der Hilfe von professionellen Therapeuten kann Ursachen auf den Grund gegangen und so eine langsame, aber beständige Verhaltensänderung erzielt werden. Denn die Sucht nach Arbeit beginnt im Kopf. Dort, wo sie auch aufhört.

Bild: sorbetto/istockphoto.com

Anne und Fred von arbeits-abc.de
Foto: Julia Funke

Mach mit und diskutiere mit uns in unserer Skool Community!

Egal, ob du Fragen hast, Antworten suchst oder einfach nur deine Erfahrungen zu diesem oder anderen Themen teilen möchtest, du bist herzlich willkommen. Diskutiere mit, erweitere dein Wissen und werde Teil einer inspirierenden Gemeinschaft. Zur Arbeits-ABC Community